Der Stand der globalen Vernetzung

Der HHLA Talk mit dem Globalisierungsforscher Steven Altman deckt Trends und auch einige Überraschungen auf.

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Ihre beiden brandaktuellen Berichte, die sie zusammen mit DHL herausgeben, enthalten einige Überraschungen. Welche Zahlen haben Sie am meisten überrascht?

Die größte Überraschung war für mich die Belastbarkeit des Handels und allgemein der internationalen Geschäftsaktivitäten während der COVID-19-Pandemie. Die breite Öffentlichkeit und auch viele Logistiker haben Störungen der Lieferkette aufgrund der Pandemie wahrgenommen, aber nur wenige wissen aber, dass der Handel nur kurzfristig rückläufig war und dann während dieses Zeitraums erheblich gewachsen ist.

Zwar gab es Lieferengpässe, dennoch wurden während der Pandemie viel mehr Waren über nationale Grenzen hinweg geliefert als vorher. Eines der Ergebnisse des Trade Growth Atlas könnte Ihre Leser überraschen: Die Struktur des Welthandels hat sich zwischen 2000 und 2010, also als der Anteil Chinas am Welthandel rasch wuchs – tatsächlich viel drastischer verändert als seither.

Steven Altman ist nicht nur Senior Research Scholar an der Stern School of Business der New York University, sondern auch Direktor der DHL Initiative on Globalization. Zusammen mit Caroline Bastian hat er jüngst zwei neue Berichte verfasst. Der DHL Global Connectedness Index 2022 untersucht die Entwicklungen bezüglich Größe und Geografie der Handels-, Kapital-, Informations- und Personenströme, und der DHL Trade Growth Atlas 2022 beschäftigt sich detailliert mit Trends, vor allem im internationalen Handel, und wo Unternehmen die viel­ver­sprechendsten Wachstumschancen finden können.

Und noch eine weitere Überraschung aus beiden Berichten: Handel fand sowohl 2020 als auch 2021 durchschnittlich über längere Distanzen hinweg statt. Viele gingen davon aus, dass über kürzere Distanzen gehandelt würde, wegen der Störungen aufgrund der Pandemie und der Bemühungen von Unternehmen, die regionale Beschaffung zu fördern. Stattdessen fand der Handel aufgrund der vergleichsweise höheren Belastbarkeit der Produktion in Asien in den ersten zwei Jahren der COVID-19-Pandemie durchschnittlich über längere Entfernungen statt. Dies führte zu mehr Fernhandel zwischen Asien und anderen Regionen.

Vor allem der Fernhandel ist ohne Containerschiffe nicht mehr denkbar.

Ist das eine Veränderung, die bleiben wird?

Es muss sich noch zeigen, ob der Handel in Zukunft über kürzere Entfernungen stattfinden wird, da viele Unternehmen und Regierungen Nearshoring fördern. In unserem DHL Global Connectedness Index-Bericht untersuchen wir Argumente sowohl für als auch gegen regionalere Handelsmuster. Zum Schluss noch eine weitere Überraschung aus dem DHL Global Connectedness Index-Bericht: Obwohl wir ausreichend Belege dafür fanden, dass sich die USA und China beim Handel und anderen Strömen entkoppeln, haben wir bei Ländern, die geopolitisch auf die USA und China ausgerichtet sind, kein solches Muster erkannt.  Zumindest für 2022 haben wir daraus geschlossen, dass die Entkopplung zwischen den USA und China die Weltwirtschaft nicht weiter in rivalisierende Blöcke unterteilt hat.

In welchen Regionen der Welt und in welchen Ländern gab es das stärkste Wachstum bei der globalen Vernetzung und beim Handelsvolumen?

Unser Trade Growth Atlas vergleicht den letzten 5-Jahres-Zeitraum zur Erstellung des Berichts (Wachstum von 2016 bis 2021) mit dem vom IWF vorhergesagten Wachstum über den nächsten 5-Jahres-Zeitraum (2021 bis 2026). Von 2016 bis 2021 ist das Exportvolumen am stärksten in China gewachsen, dicht gefolgt von der ASEAN-Region, also den südostasiatischen Nationen. Die Prognose für den Zeitraum von 2021 bis 2026 zeigte, dass ASEAN mit dem schnellsten Exportwachstum Platz 1 einnehmen wird, gefolgt von Süd- und Zentralasien auf Platz 2. Insgesamt wird Asien wahrscheinlich weiterhin am stärksten beim Export wachsen, aber innerhalb Asiens gibt es Verschiebungen nach Süden und Westen.

Zwar beschleunigt sich auch das europäische Exportwachstum, doch das schnellere Wachstum in anderen Regionen lässt Europa im Ranking sinken. China wird ein tiefer Fall von der Spitze der Rangliste vorausgesagt. (Datenquelle: IMF World Economic Outlook April 2022)

Kann starkes Wirtschaftswachstum auch ohne globale Vernetzung entstehen?

Eine ausgewogene Antwort muss zwei Aspekte berücksichtigen. Erstens: Die globale Vernetzung ist eindeutig ein positiver Beitrag zum Wirtschaftswachstum. Entwicklungen für mehr Vernetzung fördern also Wachstum, während Entwicklungen, die die Konnektivität verringern, das Wachstum verlangsamen, ja in einigen Fällen sogar umkehren. Dennoch ist eine zweite Perspektive ebenfalls wichtig.  Die meisten Wirtschaftsaktivitäten erfolgen im eigenen Land, nicht international. Das wirtschaftliche Ergebnis eines Landes wird demnach normalerweise mehr von nationalen als von internationalen Entwicklungen geprägt. Wir sollten daher die Rolle der globalen Vernetzung beim Wachstum – oder bei wirtschaftlicher Ungleichheit – nicht unterschätzen.

Mehr Seehandel, weniger Armut?

Eine wichtige Studie zu den Auswirkungen des internationalen Handels zeigt: Mehr Protektionismus trifft die Ärmsten, weniger Beschränkung hilft allen.

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Bei Ihrem Ausblick sagen Sie bisher weniger vernetzten Ländern wie Uganda, dem Kongo, Senegal oder Niger die schnellsten Veränderungen beim Handelswachstum voraus. Haben diese Volkswirtschaften am meisten nachzuholen, oder gibt es in diesen Ländern jeweils spezifische Gründe, zum Beispiel gefragte Rohstoffe?

Ohne auf einzelne Länder einzugehen, wird zumeist in Ländern mit einer geringeren Handelsintegration nicht selten ein schnelles Wachstum durch Rohstoffexporte erwartet. Durch Verschiebungen bei Angebot und Nachfrage kann das Handelswachstum eines Landes bedeutend zunehmen. Das stärkste Wachstum entsteht jedoch oft, wenn neue Bezugsquellen verfügbar werden, beispielsweise wenn ein Land mit dem Export eines Rohstoffs beginnt, den es zuvor nicht exportiert hat, oder wenn ein Land eine größere neue Produktionsstätte in Betrieb nimmt und die hergestellten Güter dann exportiert.

Auch Deutschland ist beim Speed Ranking mit Platz 87 nur mehr oder weniger in der Mitte gelandet, und der Ausblick sieht sogar noch schlechter aus. Hat diese erfolgreiche Volkswirtschaft im letzten Jahrzehnt so viel erreicht, dass ein weiteres Wachstum kaum möglich scheint?

So würde ich das nicht betrachten. Von einer fortschrittlichen Volkswirtschaft wie Deutschland kann nicht erwartet werden, dass ihr Handel genauso schnell wächst wie der von kleineren, aufstrebenden Volkswirtschaften, die in der Regel ein schnelles Wachstum – siehe „Speed“-Ranking – erzielen. Bei Deutschland möchte ich mich stattdessen auf den dritten Platz des Landes beim „Skala“-Ranking konzentrieren. Obwohl Deutschlands Handelswachstum vergleichsweise langsamer ist, gehört das Gesamtwachstum des Handels, das Deutschland nach unserer Prognose generieren wird, zum größten weltweit.

Die Prognose des IWF von April 2022 (zum Veröffentlichungszeitpunkt des Trade Growth Atlas die aktuelle) geht davon aus, dass Deutschland ungefähr die Hälfte des absoluten Handelswachstums von China auf Platz 1 und fast genauso viel wie die Vereinigten Staaten auf Platz 2 erreichen wird.

Die ewige Kraft des globalen Gefälles

Christoph Schwennicke ist seit mehr als 25 Jahren ein meinungsstarker Journalist, unter anderem für „Süddeutsche Zeitung“, „Spiegel“ und als Chefredakteur des Polit­magazins „Cicero“. Auch zum Thema Global­isierung hat er eine ganz eigene Meinung.

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Sie schlüsseln den Welthandel nach dem Harmonisierten Warenbezeichnungs- und Kodierungssystem (HS) auf. Welche darüber systematisierten Handelswaren haben in den letzten fünf Jahren im Verhältnis stark verloren, welche konnten besonders hinzugewinnen?

In unserem Trade Growth Atlas haben wir uns auf Änderungen im Produktmix von Handelswaren über den längeren Zeitraum von 2000 bis 2020 konzentriert. Den größten absoluten Handelszuwachs wiesen in diesem Zeitraum elektrische Geräte und Anlagen auf, gefolgt von Industriemaschinen sowie mineralischen Brennstoffen, Ölen und Wachsen. Das schnellste Wachstum zeigten Erze, Schlacke und Asche (eine Kategorie, die Rohstoffe wie Eisen und Kupfer umfasst), gefolgt von pharmazeutischen Produkten und Anderen konfektionierten Textilwaren. Diese Textilwaren-Kategorie umfasst übrigens Mund- und Nasenschutz und stieg wegen der COVID-19-Pandemie stark an.

Welchen Beitrag leistet die Schifffahrtsindustrie Ihrer Meinung nach zum Welthandel? Kann ihr Ausbau die Globalisierung beschleunigen – oder ist sie nur abhängig vom Wirtschaftswachstum?

Die Schifffahrtsindustrie spielt eine entscheidende Rolle bei der Globalisierung, da die überwiegende Menge der Handelsgüter auf dem Seeweg befördert wird. In der Vergangenheit haben mehr Effizienz und Zuverlässigkeit in der Seeschifffahrt stark zum Wachstum des Welthandels beigetragen. Ich gehe davon aus, dass diese Beziehung weiter bestehen bleibt. Die Schifffahrt kann auch entscheidend dazu beitragen, die Umweltauswirkungen des Welthandels zu reduzieren, nicht nur durch die relative Effizienz des Transports auf dem Seeweg, sondern auch über die derzeitigen Bemühungen, die maritimen Emissionen zu verringern.

Steven Altman

Haben sich die engen Verflechtungen der Weltwirtschaft durch die vielen globalen Krisen, Katastrophen und Kriege zuletzt gelockert?

Entgegen der Prognosen hat sich die Globalisierung während der jüngsten Ereignisse als überraschend belastbar erwiesen. Dies war ein Hauptthema unseres 2022 DHL Global Connectedness Index. Handels-, Kapital- und Informationsströme haben sich bereits auf ein höheres Niveau erholt als vor der Pandemie. Mitte 2022 war das weltweite Volumen des internationalen Handels mit Gütern 10 % höher als noch vor der Pandemie, bevor es Ende 2023 etwas abflachte. Inzwischen überqueren mehr als doppelt so viele Daten nationale Grenzen wie noch 2019.

Der einzige Aspekt der Globalisierung, der weiterhin auf einem niedrigeren Niveau liegt als vor der Pandemie, ist internationales Reisen, aber auch dies erholt sich deutlich. Nach neuesten Prognosen der UN 2023 nur 5–20 % weniger internationale Reisen als vor der Pandemie stattfinden. Einige Regionen, darunter Europa, könnten dieses Jahr sogar wieder Reisezahlen wie vor der Pandemie erreichen.

Die vier Komponenten, die globale Vernetzung ausmachen, zeigen in einer langfristigen Betrachtung insgesamt einen positiven Trend. Nur die internationalen Reisen sind wegen Covid-19 stark eingebrochen und haben sich noch nicht erholt. (Datenquelle: DHL Global Connectedness Index 2022)

Zwischen den USA und China gibt es viele Spannungen und sogar Sanktionen. Werden diese das globale Wachstum in den nächsten Jahren beeinflussen?

Wir erkennen in vielen Bereichen eine klare Entkopplung zwischen den USA und China, doch das ist nur eine Teilentkopplung. Weiterhin strömen mehr Waren von China in die USA als zwischen allen anderen Länderpaaren, obwohl es einen offensichtlichen Entkopplungstrend bei den beiden größten Wirtschaften gibt. Wir konnten allerdings kein allgemeines Muster mit Parallelen in der „Fragmentierung“ oder des „Bruchs“ feststellen, bei denen verbündete Länder in rivalisierende Blöcke unterteilt wurden.

Beispielsweise haben 2023 US-Verbündete (Klassifizierung durch Capital Economics) den Anteil ihrer Einfuhren aus China leicht erhöht, während die USA den Anteil ihrer Importe aus China verringert haben. Zumindest bisher gibt es keinen bedeutenden Bruch der globalen Ströme entlang geopolitischer Linien. Wenn in Zukunft eine deutliche Spaltung zwischen rivalisierenden Blöcken zu erkennen wäre, hätte diese wahrscheinlich erhebliche negative Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum. Dieses wesentliche Risiko gilt es zu berücksichtigen.

Wer tiefer in die Zahlen einsteigen möchte, der kann sich hier kostenlos die beiden erwähnten Studien downloaden:

DHL Trade Growth Atlas

DHL Global Connectedness Index

 

Veröffentlicht am 2.6.2023