„Wir Kunden sind verwöhnt“

Ein Gespräch mit Angela Titzrath, CEO der Hamburger Hafen und Logistik AG, über das Chaos auf den Weltmeeren, gestörte Lieferketten und überzogene Erwartungen im Online-Handel.

Erst die Pandemie, dann der Krieg: Weltweit sind Lieferketten gestört, Container liegen auf den Weltmeeren und gelangen spät erst in die Häfen und den Handel. Vielerorts fehlen Ersatzteile und Produkte. Angela Titzrath, die den Hamburger Hafenbetreiber leitet, weiß, was politisch entschieden werden sollte – und was jeder Einzelne nun tun kann.

Angela Titzrath im Interview mit der Wochenzeitung DIE ZEIT.

Frau Titzrath, haben Sie schon Weihnachtsgeschenke gekauft?
Oft, wenn ich etwas sehe, was meine Freunde oder die Familie freuen könnte, kaufe ich das und lege so einen Vorrat an Geschenken an. Aber nicht jeder muss das jetzt schon tun.

Angesichts der Staus an den Häfen kann einem aber auch im Juli der Gedanke kommen. Man kann heute gar nicht absehen, welche Güter und Produkte im Herbst oder Winter knapp sind.
Ich möchte hier nicht zum Hamstern aufrufen. Man sollte nicht mehr bestellen, als man wirklich braucht.

Als wir vor zwei Jahren miteinander sprachen, wütete bereits die Pandemie in der Welt. Sie erzählten davon, dass Sie gar nicht wussten, wohin mit all den leeren Containern. Ständig wurden Bestellungen storniert. Jetzt stauen sich die voll beladenen Containerschiffe in der Deutschen Bucht. Was ist da passiert?
Die Lieferketten sind seit zwei Jahren massiv gestört. Die diversen Lockdowns in chinesischen Häfen, der durch ein Containerschiff tagelang blockierte Sueskanal, Unwetter in vielen Teilen der Welt, der Krieg in der Ukraine mit Sanktionen gegen Russland und immer noch die Pandemie: All diese Ereignisse passierten nicht zeitgleich, sondern in Wellenbewegungen, die sich gegenseitig verstärkt haben. Jede einzelne Herausforderung ist beherrschbar. Die Kombination verstärkt die Effekte jedoch und macht die Situation unkalkulierbar.

Wenn man am Hafen entlangfährt, sieht es so gut orchestriert aus wie in der Modelleisenbahnwelt des Miniatur Wunderlands. Wo genau ist das System aus dem Takt geraten, und welche Folgen hat das für die HHLA?
Wir betreiben ein hochkomplexes logistisches System, wo verschiedene weitere Systemteile, zu Wasser, auf der Schiene und auf der Straße, ineinandergreifen. Zeitlich und räumlich. In Abläufen und in Prozessen. Im Zulauf und im Ablauf von Waren und Gütern. Dieses System ist auseinandergefallen. Es gibt keine verlässliche Pünktlichkeit und damit keine Planbarkeit mehr, weder bei den Schiffen noch im Hinterland auf der Schiene. Durch die Verspätung der Schiffe werden die Import- und Exportwaren mal zu früh und mal zu spät angeliefert. Und die nicht abgeholten Container sorgen dann für Staus und Verzögerungen im Umschlagbetrieb.

Wir unternehmen große Anstrengungen, das System wieder besser zu beherrschen. Aber das können wir nur im Zusammenspiel mit allen Teilnehmern der Logistikkette, mit verstärkter Kommunikation und Kooperation von allen Beteiligten.

Wie eine einst gut sortierte Lego-Kiste, in der man alle Farben durcheinandergekippt hat.
Klingt banal, aber das kann man durchaus vergleichen. Und wenn Sie das wieder ordnen wollen, müssen Sie es Farbe für Farbe und Steingröße für Steingröße sortieren.

Das dauert im Zweifel länger, als das Chaos zu verursachen.
Stimmt. Und für uns kommen noch weitere Herausforderungen hinzu. Die Deutsche Bahn investiert in neue Gleise, Züge und die Digitalisierung. Das ist zu begrüßen, sorgt aber zunächst dafür, dass viel Kapazität wegen Wartungs- und Bauarbeiten aus dem System genommen worden ist. Gleichzeitig müssen die Transporte auf der Schiene längere Wege fahren.

Das ist doch irre in diesen Tagen.
Zugleich ist der Personenverkehr auf manchen Strecken um 20 Prozent gewachsen, und der hat Vorrang vor dem Güterverkehr.

Also ist das 9-Euro-Ticket mit schuld am Chaos am Hamburger Hafen?
So weit würde ich nicht gehen. Es ist wie in der Lego-Kiste. Ist alles durcheinander, hilft auch kein Schütteln, es braucht Zeit und Geduld, wieder Ordnung reinzubringen.

Mehr als ein Dutzend Containerschiffe liegen gerade vor der Deutschen Bucht. Was kostet das am Tag?
Fast drei bis vier Prozent des Bruttosozialproduktes der Welt liegen gerade auf den Meeren fest, nur ein kleiner Teil davon in Europa. Der volkswirtschaftliche Schaden entsteht weniger durch die Container auf dem Schiff, sondern dadurch, dass an Land bestimmte Produkte aus dem Container fehlen, weshalb nicht produziert und verkauft werden kann. Die Autoindustrie und viele Zulieferer aus dem Mittelstand sind dafür ein Beispiel. Auch viele Bau- und Chemieunternehmen und Einzelhändler kämpfen mit Verzögerungen.

Haben die Hafenbetreiber verlernt, Globalisierung zu managen?
Nein, wir haben uns darauf eingestellt, die Schwankungen an den Weltmärkten durch zusätzliche Investitionen und digitale Lösungen besser zu beherrschen. Aber das kommt an Grenzen, wenn das System nicht ähnlich flexibel gestaltet wird. Die Digitalisierung der Schiene wird seit Jahren gefordert. Da ist zu lange nichts passiert.

Umdenken. Vorausdenken. Weiterdenken.

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Innovationen bei der HHLA

Früher lag ein Container zwei Tage im Hafen, heute fünf Tage. Heißt das, der Hafen müsste gerade mehr als doppelt so groß sein, damit es runder läuft?
Wenn Sie 50 Gäste zum Geburtstag einladen, bauen Sie Ihr Wohnzimmer ja auch nicht dauerhaft um. Dieselbe Situation haben wir jetzt. In der Nordrange ...

... zu der die großen kontinentaleuropäischen Häfen der Nordsee zählen ...
... gibt es Überkapazitäten, gemessen am globalen Wachstum. Die Umschlagkapazitäten sind für den normalen Betrieb ausreichend, aber nicht, wenn alle Schiffe auf einmal kommen. Wir müssen deshalb neu denken. Warum setzen wir nicht das Sonntagsfahrverbot für Lkw für einige Monate aus und machen die Anlieferhöfe auch außerhalb der normalen Zeiten auf?

Es gibt doch jetzt schon viel zu wenige Fahrer.
Ja, aber wer fährt, würde viel weniger Zeit im Stau verbringen. Wenn alle Lkw an Wochentagen zwischen 9 und 16 Uhr kommen, lässt sich das gar nicht verhindern.

Vor den Engpässen bei Lkw-Fahrern wird seit Jahren gewarnt. Wenn es aber um höhere Löhne geht, heißt es: Wer soll das bezahlen? Warum ist den Menschen Logistik so wenig wert?
Logistik ist eine unsichtbare Dienstleistung, wenn sie funktioniert. Es war selbstverständlich, dass beim Kauf im Internet der Versand nichts extra kostet und die Produkte am nächsten Morgen an der Haustür sind. Wir als Kunden sind verwöhnt.

Müssen auch die Unternehmen umdenken?
Ja. Die Industrie hat sich jahrzehntelang zum Beispiel auf Just-in-time- und Just-in-sequence-Produktion und die Optimierung von einzelnen Prozessen konzentriert. Je effizienter, desto besser. Wer Marktmacht hatte, konnte auf Zulieferer und Dienstleister dann zusätzlich Druck ausüben. Jetzt muss ein radikales Umdenken erfolgen.

Nicht nur Effizienz ist wichtig, sondern auch die Fähigkeit, plötzliche Schwankungen zu managen, um widerstandsfähig zu sein.

Es misst ja keiner, welche Kosten Verspätungen beim Kunden verursachen. Unternehmen werden nur überleben, wenn sie krisenfest sind.

Die großen Reedereien verdienen gerade so viele Milliarden, dass US-Präsident Joe Biden per Gesetz diese, wie er sagt, "Abzockerei" beenden wollte. Gute Idee?
Ich bin eine Anhängerin des Marktes, der sollte dies regeln. Viele Reedereien machten noch vor wenigen Jahren hohe Verluste. Deswegen hat die EU ihnen per Ausnahmegenehmigung erlaubt, sich zu Konsortien zusammenzuschließen und gemeinsame Dienstleistungen im Seefrachtverkehr anzubieten. Diese wettbewerbsbeschränkende Maßnahme gilt noch bis 2024. Sie sollte überprüft werden.

Die HHLA hat im vergangenen Jahr 60 Millionen Euro Dividende ausgeschüttet. Müsste man da nicht auch den streikenden Hafenmitarbeitern mehr Geld geben?
Wir bieten sichere Beschäftigung und gute Löhne. Die Arbeitgeber haben zuletzt Einkommensverbesserungen in Höhe von bis zu acht Prozent in zwölf Monaten angeboten. Das Gesamtpaket liegt bei bis zu 12,5 Prozent, also deutlich über der Inflationsrate und vergleichbaren Industrieabschlüssen. Arbeitskampfmaßnahmen gefährden in der aktuellen Situation die Versorgung der deutschen Wirtschaft.

In Odessa gehört der HHLA auch ein Containerterminal im Hafen. Ist der in Betrieb?
Der Hafen selber ist vermint und aktuell nicht zugänglich für Handelsschiffe, aber über die Hinterlandanbindung, vor allem über die Schiene, sind Transporte möglich, sofern es der Krieg zulässt.

Der Hafen war für Weizen- und Gashandel bekannt. Ist daran gerade zu denken?
Nur in sehr begrenztem Maß. Derzeit werden vor allem Holz und Sonnenblumenöl transportiert.

Wie viele Mitarbeiter haben Sie dort?
463, davon sind 32 derzeit als Soldaten im Krieg. Alle anderen arbeiten freiwillig im Hafen. Für uns ist die Ukraine kein abstrakter Kriegsberichterstattungsgegenstand. Für uns hat der Krieg Gesichter und Namen. Das sind Kolleginnen und Kollegen. Die eingezogenen Soldaten sind die gleichen, mit denen wir vor ein paar Wochen noch über Markterweiterung und Zielerreichung geredet haben. Menschlich beschäftigt einen das schon sehr.

Das Gespräch führte Claas Tatje. Erschienen in DIE ZEIT 29/2022 am 15.07.2022. Alle Rechte vorbehalten. Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG, Hamburg. Zur Verfügung gestellt vom Zeitverlag Gerd Bucerius GmbH & Co. KG.