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Nuno Nunes ist Deputy Vice President Europe bei der HPC Hamburg Port Consulting. Als Berater sieht er, dass weltweit ein besonderer und immer schärferer Fokus auf emissionsarmen Lieferketten liegt. Allerdings setzt man in verschiedenen Weltregionen ganz unterschiedliche Schwerpunkte bei der Nachhaltigkeit.
Was bedeutet Nachhaltigkeit?
Bevor wir Nachhaltigkeitsinitiativen starten, sollten wir über die eigentliche Natur des Problems nachdenken. Als Erstes müssen wir verstehen, dass Nachhaltigkeit eine verzwickte Angelegenheit ohne Enddatum ist. Genau wie Start-ups ihr Geschäftsmodell immer wieder an den Markt anpassen, verändert sich auch der Nachhaltigkeitsbegriff. Auch deshalb ist dieses Thema gleichermaßen spannend und herausfordernd.
Die meisten Unternehmen haben Netto-Null-Emissionen auf der Tagesordnung. Vorstände diskutieren, wie sie ihre Scope-Emissionen messen, verfolgen und verringern können. Das zeigt: Unternehmen kommen ihrer Rechenschaftspflicht über Umweltauswirkungen zunehmend nach. Trotzdem ist Netto Null nicht das endgültige Ziel, sondern nur der erste Halt auf einem langen Weg. Selbst wenn wir alle mit einem Fingerschnippen Netto Null erreichen würden, hätten wir damit lediglich die Abwärtsspirale unterbrochen.
Wir müssen klimapositiv werden, um die Schäden, die wir unserer Erde zugefügt haben, wiedergutzumachen.
Als Zweites müssen wir realistisch einschätzen, wie sich geografische, politische und wirtschaftliche Faktoren auf unser Verständ- nis von „Nachhaltigkeit“ auswirken. Eine Studie der Capital Group aus dem Jahr 2022 zeigt, dass beim Thema ESG für 48 % der europäischen Unternehmen Umweltfragen im Fokus stehen, aber nur für 41 % der Unternehmen in Nordamerika. Dort gibt es eine politische Spaltung über die Bedeutung von Dekarbonisierung. Eine Reihe von Finanz- und Kryptoskandalen (Wells Fargo, Robinhood, FTX usw.) hat dazu geführt, dass der Governance in diesem Teil der Welt eine höhere Bedeutung beigemessen wird.
Nachhaltigkeit hat sich von einer philanthropischen Idee zum Kern von Unternehmensstrategien entwickelt. Ikea hat bereits seit den 1990er-Jahren eine eigene Abteilung für Forstwirtschaft und will positiv auf die Waldbewirtschaftung einwirken. In den 1990er-Jahren war ich zwar noch ein Kind, erinnere mich aber trotzdem daran, dass die Menschen in den Supermärkten nach Plastik- statt Papiertüten fragten, um den Wald zu retten. Es hat sich wirklich viel verändert in nur wenigen Jahrzehnten.
Wie wird Nachhaltigkeit rund um die Welt gesehen?
Man darf wohl behaupten: das Epizentrum für Nachhaltigkeit liegt in Europa. Das zeigt insbesondere das Engagement der EU, die mit der Einführung der Corporate Sustainability Reporting Directive und der neuen Taxonomie für die Scope-1-, Scope-2- und Scope-3-Emissionen einen Wandel herbeiführen will. In Europa betrachtet man Nachhaltigkeit überwiegend nicht mehr als Philanthropie. Es geht vielmehr um Compliance, das Vermeiden von Kosten und letztendlich ums Überleben. Unternehmensvorstände konzentrieren sich auf Nachhaltigkeit, passen ihre Strategien und ihre Betriebsabläufe an, um ihre Kunden besser unterstützen zu können. Man versucht sogar, eine postiive CO₂-Bilanz zu erreichen.
Georgien im Kaukasus, seit November 2023 EU-Beitrittskandidat, hat beispielsweise einen Fonds für grüne Transporte in Höhe von 19 Millionen genehmigt, mit dem grüne Logistikkorridore entwickelt und die Grundlagen für eine Verlagerung von der Straße auf die Schiene geschaffen werden sollen. Auch wenn der Strom des Landes zu 80 % aus erneuerbaren Energien generiert wird, deckt es noch immer 75 % seines Energieverbrauchs mit fossilen Brennstoffen. Den größten Anteil daran hat der Transportsektor. Die Weltbank prognostiziert in der Region bis 2030 eine Verdreifachung des Handelsvolumens und eine Halbierung der Transportzeiten. Es sind also strukturelle Maßnahmen nötig, um die Logistikinfrastruktur des Landes neu auszurichten.
Indien gehört zu den Ländern mit dem niedrigsten Sustainability Score (Morningstar). Trotzdem deckt ein umfangreiches Rahmenwerk von Gesetzen den Umweltschutz, den Arten- und Waldschutz sowie die Kontrolle und Prävention von Wasser- und Luftverschmutzung ab. Auch wenn die Umwelt im Zentrum der Strategie der indischen Regierung steht, spielt der soziale Faktor im Logistiksektor eine deutlich wichtigere Rolle. So geht es zum Beispiel in den Häfen um die Minimierung von Arbeitsunfällen und Verhinderung von Todesfällen im Betrieb. Dafür werden viele schwere Maschinen und Umschlaggeräte automatisiert.
In der verbleibenden Asien-Pazifik-Region werden Bemühungen für die positive Klimaentwicklung eher geförder und weniger reguliert. Ähnlich wie in Europa gibt es dort ein Interesse, die Nachhaltigkeit ins Zentrum der Unternehmenswerte zu rücken. Allerdings mit einem deutlich einfacheren regulatorischen Rahmen, der neue Projekte und Geschäftsmodelle beschleunigen soll.
Als Berater sehe ich, dass ein besonderer und immer schärferer Fokus auf der Lieferkette liegt. Alle Branchen haben begonnen, Emissionen einzusparen – bis auf den Transportsektor.
Die Pandemie hat das Verhalten der Konsumenten verändert. In der Folge sanken die Auslieferungen auf der letzten Meile von vier Paketen pro Stopp auf nur 1,1 Pakete pro Stopp. Dies senkt die Effizienz, erhöht die Kosten und letztendlich auch die Kohlenstoffemissionen. Wir beobachten, wie Häfen, Terminalbetreiber, Behörden und Logistikunternehmen ihre Zusammenarbeit intensivieren und über Joint Ventures und Partnerschaften neue Konzepte testen. Schließlich sehen wir auch die Entstehung von Energie-Clustern und grünen Korridoren in branchenübergreifenden Projekten für mehr Klimapositivität.
Welche Herausforderungen kommen auf uns zu?
Vieles ist noch unklar, aber es scheinen sich einige Trends zu etablieren, für die Häfen, Reedereien und Logistikunternehmen generell offen sind. Wir rechnen insgesamt mit mehr regulatorischen Rahmenbedingungen. In der Folge sollten die Daten, die wir für eine sinnvolle Dekarbonisierungspolitik und Taxonomie brauchen, präziser werden. Diese werden letztendlich das Vertrauen und Verhalten der Investoren beeinflussen, aber auch die Ratings der Unternehmen, die dann nicht mehr auf der CO₂-Bilanz basieren, sondern auf der Umsetzbarkeit von Plänen für deren Reduzierung.
In diesem Szenario geht es bei der Nachhaltigkeitsberichterstattung nicht mehr nur darum, die Mindestvorgaben der geltenden Regelungen zu erfüllen.
Nachhaltigkeit wird zu einem Hebel, der mehr Vertrauen auf dem Investitionsmarkt schafft. Akteure erhalten aus der Perspektive des Energieverbrauchs einen guten Überblick über ihre Geschäftsprozesse und bauen eine ereignisbezogene Datenarchitektur auf. Genaue Zahlen werden über die gesamte Lieferkette hinweg erfasst, nachgehalten und berichtet. Das ermöglicht deutliche Verbesserungen.
In den Häfen wird das Energiemanagement eine entscheidende Rolle spielen, und die einzelnen Terminals werden letztendlich genau auf die Energieanforderungen achten. Neben der natürlichen Veränderung der Energieversorgung für schwere Maschinen und Anlagen werden auch Faktoren wie der Abbau von Verbrauchsspitzen, die Harmonisierung des Verbrauchs und die Verknüpfung von Energieanforderungen mit dem Servicegrad immer wichtiger für die Planung, das Management und den Betrieb von Hafenanlagen.
Nachhaltige Brennstoffe bilden den Kern des Wandels hin zu einer grüneren Zukunft für die Reedereien, die damit ihre Flotten auf alternative Antriebe umstellen oder umbauen müssen. Aufgrund von Unterschieden in der Energiedichte werden die bestehenden Streckennetze voraussichtlich Anpassungen erfahren, um den neuen Bunkeranforderungen gerecht zu werden. Vorerst wird das Umstellungstempo noch durch ein Austarieren zwischen den Umbaukapazitäten der Werften und den Kapazitäten für die Energieerzeugung geprägt werden.
Veröffentlicht am 12.6.2024