Ketten, die nicht reißen dürfen

Was kann Logistik lahmlegen, und wie verhindert man Stillstand? Im HHLA Talk diskutieren eine Logistik-Professorin und ein Hafenexperte.

  • Interview
  • Lieferketten
  • Digitales
  • Menschen

Logistik und Transport sind ein großer Komplex miteinander vernetzter Prozesse. Das System wird immer komplizierter und damit anfälliger für Störungen. Professionelles Supply Chain Risikomanagement muss daher eine größere Rolle spielen, fordert Dr. Meike Schröder, Ober-Ingenieurin an der Technischen Universität Hamburg. Ihr Forschungsgebiet sind die Lieferketten, und dazu teilt sie im folgenden HHLA Talk einige Überlegungen. Was das Hamburg Vessel Coordination Center (HVCC) für eine bessere Koordination der Schiffsverkehre tut, und welche zukunftsweisende Lösungsansätze für die Schifffahrt denkbar sind, erklärt HVCC-Geschäftsführer Gerald Hirt.

Hören Sie den HHLA Talk

Umdenken. Vorausdenken. Weiterdenken.

Wie kann die Zukunft der Logistik gestaltet werden? Entdecken Sie, wie innovative Lösungen und Technologien, die den Weg für eine effizientere und nachhaltigere Logistik ebnen.

Innovationen bei der HHLA

Beitrag lesen

Wenn Ketten zerreißen, ist das nicht immer eine Befreiung. Dann nämlich, wenn es sich um Lieferketten handelt. Störungen und Staus setzen die global angelegte Logistik der Weltwirtschaft derzeit mächtig unter Druck. Im HHLA Talk geht es heute um diese Krise der Lieferketten. Sie betrifft die Seehäfen und Schifffahrt genauso wie Schienen und Straßenverkehr, Lagerhaltung und Industrieproduktion. Es ist ein wirklich komplexes Thema und deswegen haben wir gleich zwei ausgewiesene Logistik-Fachleute eingeladen. Zum einen begrüße ich Frau Dr. Meike Schröder. Sie hat sich an der Technischen Universität Hamburg am Institut für Logistik und Unternehmensführung habilitiert, also die akademische Lehrbefugnis erlangt. Das Thema Ihrer Habilitationsschrift war das Supply Chain Risikomanagement und die Entwicklung einer Methode, wie man dieses Risikomanagement strukturiert verbessern kann. Auf genau das Thema kommen wir in unserem HHLA Talk mit Sicherheit noch ausführlich zu sprechen. Frau Schröders Institut betreibt anwendungsorientierte Forschung und Lehre zu Fragen, wie Supply Chain Management und Supply Chain Security, aber auch Technologie- und Prozessinnovationen in der Logistik. Das Institut arbeitet somit an der Schnittstelle von Ingenieur und Wirtschaftswissenschaften und Frau Schröder hat dort den beeindruckenden Titel einer Ober-Ingenieurin. Herzlich willkommen! Gibt es denn viele Ober-Ingenieurinnen im akademischen Betrieb?

00:01:29
Dr. Meike Schröder: Ja, vielen Dank erst mal für die Vorstellung. Das ist eigentlich ein Begriff, den wir nur an technischen Universitäten finden. Resultiert daraus, dass früher Ingenieure ausgebildet wurden und die Ober-Ingenieure eben eine leitende Funktion hatten. So hat sich eben diese Bezeichnung an den Technischen Universitäten etabliert. Zu Ihrer Frage, ob es viele Ober-Ingenieurin im akademischen Betrieb gibt: Definitiv Nein. Das sind unbefristete Stellen, und die sind sehr rar in der Wissenschaft in Deutschland.

00:02:01
Mein zweiter Gesprächspartner ist ein gestandener Praktiker der Hafenwirtschaft Gerald Hirt. Er kennt die Schifffahrt spätestens seit seinem Militärdienst als Leutnant der Deutschen Marine. Später dann studierte Herr Hirt Seeverkehr und Hafenwirtschaft und machte in Kopenhagen seinen Master in Shipping and Logistics. Berufliche Stationen waren dann unter anderem die Reederei P&O Nedloyd, Hamburg Port Consulting und später die HHLA Container Terminals. Heute ist er seit fast zehn Jahren bei der HVCC. Die Abkürzung steht für Hamburg Vessel Coordination Center. Das ist eine HHLA Beteiligung und Herr Hirt ist dort zum Geschäftsführer aufgestiegen. Es geht beim HVCC dem Namen nach offenbar um das Koordinieren des Schiffsverkehrs. Was das Center genau tut, das wird er uns sicher gleich noch erläutern. Zunächst aber auch Ihnen herzlich willkommen.

00:02:57
Gerald Hirt: Vielen Dank für die Einladung. Freue mich, hier zu sein.

00:02:59
Ja, dann gleich mal die erste Frage zu unserem Thema an den Praktiker der Hafenwirtschaft: Wie und wo zeigen sich die Lieferkettenprobleme im Bereich des Hamburger Hafens denn heute ganz konkret?

00:03:12
Gerald Hirt: Ich würde da gerne mit einem Bild anfangen. Ein Hafen, ein Terminal ist wie ein großes Uhrwerk. Und jede einzelne Brücke, jeder Gang, der an einem Schiff arbeitet, ist in sich noch mal ein solches Uhrwerk, wo Menschen, Maschinen verzahnt miteinander arbeiten, wo es einen Prozess gibt, einen Container auszulagern, horizontal über eine Fläche zu transportieren und dann auf ein Schiff zu laden. Dann müssen wir uns vorstellen, es arbeitet nicht nur eine Brücke an einem Schiff, sondern acht Brücken. An einem Terminal kommen Lkw und Bahnverkehre, das ist also ein großer Komplex an miteinander vernetzten Prozessen. Und wir haben in Hamburg nicht nur ein Terminal, sondern allein vier Containerterminals. Das heißt, das System wird immer komplexer. Neben den Container Terminals gibt es auch noch andere Ladestellen, Bulk Terminals wie den Hansaport, rollende Verkehre bei Unikai... Das Ganze wird also noch größer. Und wenn wir uns dann einmal auf noch eine höhere Metaebene begeben, dann sehen wir, dass der Hamburger Hafen nur ein Hafen ist von ganz, ganz vielen in dieser Containerschifffahrt, was das System natürlich noch komplexer macht. Und dann zurück zu Ihrer Frage: Wo spüren wir also konkret die Auslastung, die Probleme aktuell? Wir haben seit vielen Monaten enorme Verspätungen in der Containerlinienschifffahrt. Und das hat an den Container Terminals dazu geführt, dass wir eine extrem hohe Yard-Auslastung auf den Anlagen haben. Zunächst einmal während der Corona-Pandemie, insbesondere durch die Export Container getrieben. Die Container wurden angeliefert an den Terminals, als ob das Schiff im Fahrplan ist. Das Schiff war aber nicht im Fahrplan, und so standen dann die Container drei bis fünf Tage länger bei uns auf dem Hof. Jetzt haben wir gerade die Situation, dass wir in eine Inflation hineinlaufen. Das heißt, der Konsum jedes Einzelnen geht zurück und wir stellen fest, dass die Lager der Importeure voll sind. Die IKEAs, die New Yorker, die Deichmanns - die nehmen ihre Container nicht mehr so schnell ab, wie wir das gewohnt waren. Das heißt, wir haben jetzt fast eine Verdoppelung der Import-Verweildauer der Container. Und wenn wir das jetzt einmal zusammenfassen, dann sehen wir genau, wo das Problem entsteht, und dass wegen dieser hohen Yard-Auslastung wiederum die Produktivität des Container Terminals sinkt. Das heißt, die Schiffe werden nicht so schnell bearbeitet, verzögern sich weiter in den Folgehäfen. Das Gesamtsystem wird also immer langsamer, hat Sand im Getriebe, um das einmal so zu beschreiben. Und das Problem, was wir jetzt noch gar nicht betrachtet haben, das ist das Problem des Equipments. Es geht um die Box, die jetzt eigentlich im Import abgenommen werden soll und morgen, übermorgen bei BMW in München sein müsste, nächste Woche eigentlich schon wieder für einen Export genutzt werden sollte – die steckt irgendwo fest. Das gesamte globalen Container Equipment ist aus den Fugen geraten.

00:05:54
Da haben Sie jetzt schon ein Stichwort genannt: Das globale System. Frau Schröder, bitte zählen Sie doch mal aus Ihrer Sicht auf, welche Faktoren sonst noch die globalen Schwierigkeiten in den Lieferketten beeinflussen.

00:06:08
Dr. Meike Schröder: Herr Hirt hat ja gerade schon zahlreiche Faktoren genannt, die jetzt sehr hafenspezifisch waren und dort die Prozesse stören. Die uns natürlich allen am bekanntesten sind, sind jene Faktoren, die mit den Folgen der Corona-Pandemie zusammenhängen. Da haben wir den Ausfall von Angestellten, die entweder krank sind oder in Quarantäne. Wir haben in nahezu allen Ländern der Welt immer wieder Betriebsunterbrechungen oder gar Betriebsschließungen zur Eindämmung des Coronavirus. Das führt natürlich dazu, dass wir einen Engpass an Personal haben für sämtliche Abwicklung der Prozesse. Und diese Prozesse können eben ganz unterschiedlichster Art sein. Das können Produktionsprozesse sein, das können aber auch eben - wie gerade beschrieben - die Transportprozesse sein. Vielleicht fehlt auch einfach nur ein Lkw-Fahrer oder wir haben lange Wartezeiten an den Grenzen. Das führt eben alles zu entsprechenden Verzögerungen oder gar Unterbrechungen in der Lieferkette. Wir haben aber auch noch ganz andere Faktoren, die jetzt nicht unbedingt aus der Corona-Pandemie resultieren. Das können ganz andere Ursachen sein, wie zum Beispiel Extremwetter, wo ganze Infrastrukturen durch Überschwemmungen, Feuer oder Erdbeben zerstört werden. Oder ganz aktuell: der Ausbruch von Kriegen, die das Durchfahren von ganzen Regionen einfach unmöglich machen. Wenn wir über die Supply Chain sprechen, dann sind wir auch ganz schnell bei dem Thema der Digitalisierung der Supply Chain. Und hier sind natürlich ganz wichtige Faktoren die IT-Störung oder Hackerangriffe, die dazu führen, dass auch hier Betriebsprozesse komplett unterbrochen werden, insbesondere bei kleineren Unternehmen, die vielleicht nicht so eine gute Abwehrfunktion haben, was ihr IT-System anbelangt.

00:07:46
Das ist schon eine beeindruckende, auch bedrohlich lange Liste. Wie viele dieser Faktoren - Frage an Sie beide - müssen denn zusammenkommen, um eine ernsthafte Störung in Häfen wie dem Hamburger Hafen zu bewirken?

00:08:01
Gerald Hirt: Also ich glaube, dass manchmal nur ein einziger Faktor schon ausreicht. Stichwort "Ever Given", deren Havarie im Suezkanal ein gesamtes System zum Erliegen gebracht hat, das sich wieder zurecht schütteln musste. Oder jetzt eben, was Frau Schröder gerade schon sagte, eine Hafenschließung in Schanghai, die eben solche elementaren Schockwellen über den Globus sendet. Ich glaube, da kann man wahrscheinlich gar nicht sagen, ob das ein oder drei Faktoren sein müssen, sondern manchmal reicht auch eine ganz elementarer aus, um so ein System ins Stottern zu bringen.

00:08:32
Dr. Meike Schröder: Ja, dem kann ich mich definitiv nur anschließen. Man kann es nicht an einer konkreten Zahl an Faktoren ausmachen. Sie hatten gerade schon das schöne Beispiel mit dem Verstopfen der Fahrrinne erwähnt. Wir können das auch weiterspielen und sagen, wenn wir 400 Mitarbeiter hätten, die gleichzeitig in Quarantäne müssten oder fünf Unfälle im Hafenbereich, das würde generell keinen Hafen lahmlegen. Wenn hingegen nur ein Container mit Gefahrgut explodiert, dann führt sowas natürlich zu erheblichen Störungen. Es kommt immer darauf an: Was haben denn diese Störungen für eine Reichweite?

00:09:04
Frau Schröder, von der Wissenschaft erhoffen wir uns ja, dass sie durch ihre Analysen nun rechtzeitig Bedrohungen aufspürt und Auswege aufzeigt. Aber in der aktuellen Lieferkettenkrise erleben wir da jetzt - durch das fast gleichzeitige Auftreten vieler Faktoren, also Corona, Krieg, Klimawandel - eine Art perfekten Sturm, auf den jetzt wirklich niemand vorbereitet sein konnte?

00:09:29
Dr. Meike Schröder: Mit einem derartigen Ausmaß der Corona-Pandemie über sämtliche Kontinente hinweg hat mit Sicherheit niemand gerechnet, und auch der Krieg kam für uns alle, denke ich, doch recht überraschend. Aber es ist nicht so, dass niemand vorbereitet war oder hätte sein können. Denn da sind auch die Unternehmen, die eine hohe Transparenz haben, also Digitalisierung in der gesamten Lieferkette oder dazu noch ein länderübergreifendes Supply Chain Risikomanagement, wie wir es in der Wissenschaft so schön nennen. Die wurden wesentlich früher über die Störung informiert, also die wussten zum Beispiel was in Asien passiert, bevor die Welle auf Europa zugekommen ist. Sie hatten dadurch natürlich einen längeren Zeitraum oder Spielraum, sich zu überlegen: Welche Gegenmaßnahmen kann man denn ergreifen, um diese Störung abzuschwächen?

00:10:14
Wer war das zum Beispiel? Wer war in dieser glücklichen Situation?

00:10:17
Dr. Meike Schröder: Das sind vor allem große Unternehmen, die schon viel in ihr Risikomanagement investieren, also die wirklich eine hohe Transparenz in der Supply Chain haben müssen. Die sind dann auch schon vorbereitet, was Notfälle anbelangt, und um entsprechende Situationen, Szenarien durchzuspielen. Das hilft dann natürlich in diesem Fall besonders.

00:10:36
Herr Hirt, war das bei Ihnen auch so? Wussten Sie schon, was auf Sie zukommt? Hatten Sie eine Ahnung?

00:10:41
Gerald Hirt: Also ich glaube, wir hatten ein Gefühl, dass da etwas Großes auf uns zukommt. Aber in solch einem Ausmaße, glaube ich, sind auch wir sehr überrascht gewesen.

00:10:53
Ja, was ist denn die Prognose der Forscherinnen und Forscher, die sich damit beschäftigen? Werden die Probleme von selbst wieder geringer, wenn zum Beispiel das Schlimmste bei Corona überstanden ist?

00:11:04
Dr. Meike Schröder: Also wir werden alle lernen mit dem "New Normal", wie es so schön heißt, also den Auswirkungen der Pandemie umzugehen. Es wird Probleme geben, die werden zurückgehen, wie zum Beispiel der Krankenstand bei Angestellten, weil die Unternehmen einfach ein gutes Hygienekonzept mittlerweile haben oder Strategien, wie sie mit der Pandemie umgehen können. Aber es wird auch neue und andere Probleme geben, denn beispielsweise auch Naturkatastrophen, Kriege oder Cyberangriffe sind nur sehr schwer vorherzusagen.

00:11:34
Wie sehen Sie das aus der Praxis?

00:11:37
Gerald Hirt: Das teile ich zu 100 Prozent. Ich befürchte auch, es wird auch die Notwendigkeit bestehen, sicherlich regulativ hier und da einzuwirken. Unsere HHLA-Vorstandsvorsitzende, Frau Titzrath, hatte hatte kürzlich beispielsweise ein Sonntags-Fahrverbot ins Spiel gebracht. Das denke ich, ist das New Normal, an das wir uns gewöhnen müssen, dass sich die Welt, die globalisierte, arbeitsteilige Wirtschaftswelt verändert hat. Auch wir, jetzt also mit Fokus auf die HHLA, müssen uns als Organisation mit unserer IT, mit unseren Prozessen, mit den Menschen, die bei der HHLA arbeiten, diesem New Normal auch anpassen müssen.

00:12:16
Da sind wir jetzt schon bei den Lösungsansätzen, den Lösungsperspektiven. Wir können ja nur die wichtigsten Brennpunkte in dieser Hinsicht ansprechen. Aber vielleicht wäre es gut, wenn Sie, Herr Hirt, uns dann zunächst mal kurz erklären, was Ihr Unternehmen HVCC, also das Hamburg Vessel Coordination Center, da in dieser Hinsicht tut.

00:12:38
Gerald Hirt: Wir sind in vielerlei Hinsicht ein recht einzigartiges Unternehmen. Das geht los mit unserer Gesellschafterstruktur. Wir sind ein Joint Venture zwischen der HHLA und dem Eurogate-Containerterminal hier in Hamburg. Das geht weiter mit unserer operativen Rolle, die wir spielen. Das heißt, ein Koordinatorrolle zwischen Reeder, zwischen Terminals, zwischen den hoheitlichen Stellen, zwischen den nautischen Dienstleistern, um eben die Schiffe sehr viel effizienter auf den Hafen zulaufen zu lassen, rotieren zu lassen. Und das machen wir in zwei Abteilungen. Das eine ist die Feeder Logistik Zentrale, wo wir Feederschiffe und Binnenschiffe durch den Hafen koordinieren, wo wir auch die Stauplanung der Schiffe übernehmen. Und dann unsere jüngere Abteilung, die Nautische Terminal Koordination, wo wir die großen Schiffe, die auf Hamburg zulaufen, koordinieren. Nicht nur Containerschiffe, sondern auch ConRo-Schiffe, Bulker, Kreuzfahrtschiffe in der Koordination haben. Und um all das zu machen, haben wir uns in den letzten Jahren Software gebaut. Wir haben uns also gewisse Tools in den Werkzeugkasten gelegt, um dieser Rolle gerecht zu werden. Diese Software wird heute von über 1.000 Usern im Hamburger Hafen bereits genutzt, die damit sozusagen One Single Truth haben, einen Datensatz, wo alle wissen, was gerade in der Kondition läuft. Das machen wir mit achtzehn Mitarbeitern, 24/7, rund um die Uhr an 360 Tagen im Jahr. So haben wir im letzten Jahr 3.000 Großschiffsanläufe koordiniert und über 7.000 Feeder- und Binnenschiff-Anläufe in unserer Koordination gehabt.

00:14:07
Und koordinieren bedeutet, dass sie eben dafür sorgen, dass es keine Staus gibt, dass sie möglichst reibungslos rein und raus kommen, ohne große Verzögerungen, und dass die Lieferketten in dieser Hinsicht auch möglichst ungestört bleiben.

00:14:24
Gerald Hirt: Genau. Und der Prozess, um mal bei den Großschiffen zu bleiben, ist folgender: Der Reeder gibt Mitte Juli bekannt, wann er denn im August, September mit welchen Schiffen nach Hamburg kommen wird. Da hat er allerdings nur ein Datum im Fahrplan. Mit diesem Datum geht er irgendwann dann auch auf die HHLA zu und sagt: Ich möchte gerne am 15. August mit Schiff XY bei dir am Burchardkai sein. Da gibt es dann diese Verabredung zwischen dem Reeder und dem Terminal. Wenn das Schiff dann im Zulauf ist, also aus Asien abgefahren ist, kriegen wir irgendwann vom Reeder einen sogenannten Coastal Schedule oder Küstenfahrplan zur Verfügung gestellt. Da ist dann schon drin, an welchem Tag und zu welcher Uhrzeit er denn in Hamburg sein will. Und gute Reeder, die haben da auch schon Tiefgänge perspektivisch mit dabei, um beispielsweise eine Tide-Situation in Hamburg oder Antwerpen auch bei dem Küstenfahrplan zu berücksichtigen. Unsere Firma hat dann das Schiff ab Gibraltar auf dem Schirm, das heißt, unsere Software plottet das Schiff automatisch mit. Wir haben jede Minute 50.000 Schiffspositionen im System. Wir haben 800 Wegpunkte über ganz Nordeuropa definiert, sodass wir ein lückenloses Profil des Schiffes im Zulauf haben. Und die eigentliche Arbeit geht dann tatsächlich vier Tage vor Ankunft des Schiffes los. Das heißt, heute haben wir Donnerstag, da bereiten sich die Kollegen in der Nautischen Terminal Koordination bereits über die Verkehrssituation am Montag vor, wann also welches Schiff auf der Elbe sein wird und gegebenenfalls Konflikte mit anderen Verkehrsteilnehmern haben wird. Und das ist auch der Moment, wo wir anfangen, in die Vorhersagen zu gucken. Das heißt, die konkrete Situation des Schiffes mit dem Reeder abzustimmen, um dem Reeder dann in Form eines Passageplans eine Empfehlung auszusprechen, wann er im Hafen losfahren soll, mit welcher Geschwindigkeit er die Elbe ansteuern soll, so dass alle Verkehre, die ein- und auslaufen zu einer bestimmten Tide-Situation aufeinander synchronisiert sind.

00:16:36
Das bedeutet also Kontakte mit Reedern weltweit, und je näher sie ihnen kommen mit den Schiffen, desto aktueller und genauer werden die Informationen, die Daten dann. Ein wirklich wichtiges Partnerland für den Hamburger Hafen und auch die HHLA ist China mit seinen riesigen Containerreedereien und Häfen. Eine Frage an Sie beide: Wird nach Ihrer Prognose China in Zukunft der wichtigste Knotenpunkt in der weltweiten Warenlogistik bleiben? Denn die anderen asiatischen Länder bauen ja ihre Häfen und Logistik Dienstleistungen auch weiter massiv aus.

00:17:14
Dr. Meike Schröder: Also ich denke, China wird auch in Zukunft einen ganz wichtigen Stellenwert einnehmen, aber andere asiatische Länder, wie Sie gerade schon sagten, ziehen ganz massiv nach. Ich habe in den letzten Tagen noch eine Studie in der Hand gehabt. Dort ging es um den Güterverkehr in Südostasien. Dort wurde prognostiziert, dass bis 2030 im Vergleich zu 2015 der Güterverkehr um fast 80 Prozent zunehmen wird. Das bedeutet, dass sich bis ungefähr 2050 auch die Tonnen-Kilometer aller elf Länder mehr als verdreifachen könnten. Und das sind natürlich ganz dynamische Entwicklung. Und selbst wenn wir uns das Ranking der Top 30 Containerschiffe von 2021 anschauen, da finden wir neben Singapur auch Häfen in Malaysia, Vietnam und Indonesien. Das bedeutet also für die Zukunft: Wir werden dort ganz immenses Wachstum haben, Investitionen in Infrastruktur und auch ein Ausbau ganz wichtiger logistischer Knotenpunkte außerhalb Chinas.

00:18:05
Gerald Hirt: Ich teile dieses Bild. Wenn wir mal 20, 30 Jahre zurück gucken, dann hatten wir, glaube ich, zwei elementare Ereignisse, die zu dieser globalen Wirtschaft geführt haben. Das eine war ein Freihandelsabkommen. 2001 ist China der WTO beigetreten. Parallel hat die Reeder-Kundschaft natürlich massiv investiert in neue Kapazitäten, in immer größer werdende Schiffe. Und das hat natürlich diese Produktionsverlagerung erst möglich gemacht. Sie haben gerade schon die Top 30-Häfen angesprochen. Ich habe mir nochmal die Top 10-Häfen angeguckt. Zusammen addiert erbringen dort die chinesischen und der Hongkonger Hafen knapp 200 Millionen TEU Umschlag. Ich glaube, es ist utopisch zu denken, dass dieses Rad zurückzudrehen sein wird. Es wird sicherlich einzelne Geschäfte geben, Mode Zara ist dort ein prominentes Beispiel, immer wieder sogenanntes Near Sourcing zu betreiben. Das heißt also, eher in Spanien oder Nordafrika zu produzieren, um ganz schnell auch auf Modetrends reagieren zu können, was eben nicht möglich ist, wenn ich das auf der anderen Seite der Welt machen würde.

00:19:06
Ja, da sprechen Sie schon die Nähe der Produktion oder der Lagerhaltung an. Könnte man nicht einfach sagen: Wir holen Produktions- und Lagerbetriebe aus der weiten Welt nach Europa zurück, vielleicht sogar nach Deutschland. Wäre dann alles nicht mehr so störanfällig?

00:19:23
Dr. Meike Schröder: Es gibt ja schon vielseitige Diskussionen, ob man Produktionsstätte wieder zurück verlagert. Gerade nach Deutschland, da sehe ich es in vielen Fällen einfach utopisch, denn es gibt ja gute Gründe dafür, warum die Produktionsstätten ins Ausland verlagert wurden. Wir haben niedrigere Beschaffungs- und Lohnkosten im Ausland, wir haben die Nähe zu Rohstoffen oder überhaupt die Möglichkeit, den Absatzmarkt anzugehen. Man spart mit Sicherheit auch noch Steuern als Unternehmen. Das heißt, all diese Vorteile hat man ja nicht bei einer Produktion Made in Germany. Man hat dann vielleicht keine Probleme oder Risiken, oder zumindest geringere Risiken, was die Transportlandschaft anbelangt, aber dafür ganz andere Probleme. Wie eben die Rohstoffverfügbarkeit. Von daher glaube ich nicht, dass es zu diesem drastischen Wandel kommt. Man muss ja immer bedenken, letzten Endes muss der Kunde vor allem mehr Geld in die Hand nehmen und plötzlich das Doppelte für Produkte oder Dienstleistungen zu zahlen. Dazu wird er nicht bereit sein.

00:20:15
Jetzt haben wir ja von Herrn Hirt schon einiges darüber gehört, wie sein Unternehmen kommuniziert und auch Datenkommunikation betreibt. Ganz allgemein gefragt: Werden wir eher mehr oder eher weniger Digitalisierung brauchen, um die Lieferkettenprobleme zu lösen?

00:20:34
Dr. Meike Schröder: Wir brauchen definitiv mehr Digitalisierung und zwar durchgängig, das heißt durch die gesamte Supply Chain. Um sich auf Lieferketten Unterbrechungen vorbereiten zu können, brauchen Sie rechtzeitig Informationen über die aktuelle Lage, also über mögliche Störungen, und das in Echtzeit. Sie bekommen die aber nur, wenn Sie eine ausreichende Transparenz in Ihrer Supply Chain haben. Wenn Sie also wissen: Wo sitzen denn meine Vor-Lieferanten in Asien oder in Südamerika, und wie kann ich mit ihnen kommunizieren bzw. welche Daten kann ich denn mit ihnen austauschen? Und das geht eben nur, wenn sie eine gute Digitalisierung der Prozesse haben.

00:21:09
Gerald Hirt: Wenn ich das noch ergänzen darf, dann ist genau das auch noch einer der Faktoren gewesen, die wir vorhin schon aufgezählt hatten. Eben dass unsere Industrie noch ganz viele manuelle Brüche hat und keinen durchgängig digitalisierten Prozess dort abgebildet hat. Und das sehen wir in unserer Kommunikation mit der Reeder-Kundschaft, mit anderen Häfen und so weiter, dass es da noch ganz, ganz viel Nachholbedarf gibt in unserer Industrie.

00:21:30
Dann lassen Sie uns doch mal ganz konkret diskutieren, wie man gerade auch mit Hilfe der Digitalisierung wieder mehr Verlässlichkeit, weniger Anfälligkeit auf den Lieferwegen erzeugen kann. Herr Hirt, für Containertransporte auf Binnenschiffen hat Ihr Hamburg Vessel Coordination Center 2019 eine digitale Plattform aufgebaut. Und auf der haben sich Reeder, Terminals, Schiffsführer und Behörden miteinander vernetzt. Was war da das Ergebnis?

00:21:59
Gerald Hirt: Ich würde sehr gerne gar nicht nur über das Binnenschiff sprechen, sondern allgemein über die Plattform, die wir aufgebaut haben und welche Effekte daraus erzielt wurden. Die sind für das Binnenschiff genauso gültig wie für das Feederschiff oder das Großschiff. Der eine Aspekt, der daraus entstanden ist, ist ein ganz hohes Maß an Transparenz. Transparenz ist etwas, was viele Akteure teilweise auch nicht gut fanden. Dass also gesehen wird, wo bauen sich Verspätungen auf, wie ist die Performance eines einzelnen Akteurs? Aber ich hatte eben schon einmal dieses Stichwort One Single Truth genannt. Das ist genau der Punkt gewesen, der uns ein wenig gefehlt hat, dass wir zur Ankunftszeit eines Schiffes, um mal ein Beispiel zu nennen, von dem Reeder eine Information hatten, vom Terminalinformationen, von den Maklern ebenfalls Informationen und vielleicht noch von den Lotsen. Aber diese One Single Truth hatten wir so nicht, und das war einer der Effekte, die sich wirklich eingestellt haben, also ein ganz hohes Maß an Transparenz über die Daten. Das zweite, was daraus resultiert, ist ein hohes Maß an Planbarkeit. Und Planbarkeit heißt, natürlich für das Schiff, verlässlich zu wissen: Wann muss ich denn bei der Elb-Steuerung sein? Das heißt für den Terminal, ein hohes Maß an Verlässlichkeit, an Ressourcenplanung, Verfügbarkeiten zu planen. Und das heißt für die gesamten folgenden Transportträger auch ein hohes Maß an Planbarkeit. Wann kann denn der Container realistisch auf den Zug, auf den Lkw usw. verladen werden? Das ist also das zweite Thema, und das dritte: Wir haben ein hohes Maß an Kollaboration geschaffen. Das sehen Sie schon in unserer Gesellschaftsstruktur, aber eben auch in der Art und Weise, wie wir als privates Unternehmen mit den hoheitlichen Stellen zusammenarbeiten. Oder eben mit den Reedereien und den nautischen Dienstleistern hier im Hafen. Das sind so die drei Säulen, die ich als Effekte unserer Arbeit sehe.

00:23:48
Frau Schröder, diese Art von Vernetzung ist also doch grundsätzlich offenbar ein Schritt zur Risikominimierung in Logistikketten. Das ist ja eines Ihrer Spezialgebiete. Geht da noch mehr? Arbeitet die Wissenschaft an noch umfassenderen Netzwerken?

00:24:03
Dr. Meike Schröder: Ja. Wir versuchen in der Wissenschaft, das Netzwerk über einen bestimmten Knotenpunkt hinaus zu betrachten. Also eine End-to-End-Betrachtung zu erzielen. Das bedeutet vom Material, vom Rohstoff bis hin zum Endkunden. Wenn wir das am Beispiel eines T-Shirts machen, dann wäre das zum Beispiel die Baumwolle auf der Plantage bis hin zum verkaufsfertigen T-Shirt im Laden. Herr Hirt hat ja gerade schon gesagt, dass es hier um die Verbesserung beim Schiffsanlauf ging, was letzten Endes einen Teilbereich in der maritimen Logistik darstellt. Und gehen wir jetzt mal die Lieferkette einen Schritt zurück oder einen Schritt in Richtung Endverbraucher, dann ist es auch unser Ziel, eben diese Transparenz noch weiter zu steigern, also über die gesamte Kette hinaus, und die Information zwischen diesen Beteiligten der Supply Chain zu verbessern.

00:24:47
Sie, Herr Hirt, sind bereits dabei, die digitale Vernetzung von Beteiligten an Lieferketten auch im weltweiten Maßstab voranzutreiben. Die sogenannte Digital Container Shipping Associates entwickelt und erprobt mit Partnern wie dem HVCC Normen für eine einheitliche Datenkommunikation zwischen Reedern und Terminals. Um was für Daten geht es da und was soll das bringen?

00:25:11
Gerald Hirt: Ja, in der Zusammenarbeit mit der Digital Container Shipping Association oder DCSA geht es darum, eine digitale Verabredung zwischen Reeder und einem Hafenplatz hinzubekommen. Ich vergleiche das immer gerne mit der Verabredung für diesen Termin hier, wo Sie vorgeschlagen haben: Lassen Sie uns um 15:00 Uhr treffen. Ich vielleicht sage: Mir passt aber besser 14:00 Uhr, und das Ganze läuft über Outlook, so wie wir das gewohnt sind. Und genauso planen wir perspektivisch diese digitale Verabredung mit den Auftragsdaten, die uns ein Reeder übergibt. Wann möchte ich mit welchem Schiff da sein? Wie viel Container möchte ich bewegen? Eben komplett zu digitalisieren und nicht mehr über Telefonanrufe, Excel, PDF und so weiter abzubilden. Das Ziel dabei ist, genauso wie in der Luftfahrt bereits üblich, wo es verbindliche Standards gibt, die jede Airline, jeder Flughafen adaptiert hat, eben auch hier einheitliche Standards zu haben. Was meinen wir denn mit der Abgangszeit eines Schiffes? Ist das, wenn die letzten Leinen los geworfen sind, oder wenn das Schiff die Hafengrenze passiert? Das ganz genau ist Ziel der Zusammenarbeit mit der DCSA.

00:26:15
Wenn man nicht nur die Partner in einer Lieferkette, sondern auch miteinander konkurrierender Unternehmen dazu bringen will, miteinander Daten zu teilen und dies von Institutionen wie dem HVCC koordinieren zu lassen, ist das nicht noch viel schwieriger?

00:26:31
Gerald Hirt: Ja, um das einmal einzusortieren Wir bewegen keine kommerziell sensitiven Daten, sondern wir bewegen Ankunftszeit und Abgangszeiten, vielleicht mal Tiefgang. Aber Sie sprechen dort ein ganz wichtiges Thema an. Neben all diesen technisch funktionalen Themen, die wir bewegen, ist dieses Thema des Change Managements, also Menschen zu neuen Ideen, neuen Prozessen zu bewegen, ein ganz wichtiges Thema, Also vielleicht auch mal out of the box zu denken, Daten miteinander zu teilen, weil dann ein Gesamtsystem wie die Unterelbe besser funktioniert. In dem, was wir dort in den letzten Jahren aufgebaut haben, ist allerdings auch eine ganz große Hürde. Als Beispiel vielleicht unsere Schnittstelle mit dem Hafen Rotterdam. Das zu bauen, hat anderthalb Tage gedauert, aber ein Data Exchange Agreement aufzusetzen, hat sechs Monate gedauert.

00:27:19
Das heißt, es gibt irgendwo doch bei den Menschen so einen Impuls, einen Instinkt: Ach, ich lass mir lieber nicht so tief in meine Karten gucken? Und das muss erst mal abgebaut, überwunden werden?

00:27:31
Gerald Hirt: Ganz klar. Da sind wir sicherlich in der Schifffahrt ein wenig tradierter als in anderen Industrien unterwegs. Aber das ist genau das, womit wir in den letzten zehn Jahren, wo wir unsere Prozesse digitalisiert haben, wo wir uns mit Partnern vernetzt haben, wirklich tägliches Geschäft, dass wir auf solche Befindlichkeiten, auf solche Widerstände getroffen sind.

00:27:48
Frau Schröder, wie würden Sie denn die unterschiedlichen Beteiligten an der Lieferkette dazu bewegen, sich der Kontrolle einer gemeinsamen Instanz zu unterstellen? Helfen da Appelle im Sinne des gemeinsamen Anliegens, also der robusteren, effizienteren Lieferkette? Oder braucht es tatsächlich dieses Change Management, von dem Herr Hirt gerade spricht?

00:28:11
Dr. Meike Schröder: Also der Appell wird definitiv nicht ausreichen. Und wie Sie gerade schon sagten: Change Management ist da ein ganz, ganz wichtiges Thema. Wenn wir mal so ein bisschen die Historie anschauen, sind die Vorteile einer krisensicheren Lieferkette nahezu jeder Geschäftsführung bekannt, und das nicht erst seit Corona. Aber trotzdem investieren die Unternehmen viel zu wenig für entsprechende proaktive Maßnahmen. Es fehlt oft das Verständnis, sowohl finanziell als auch personelle Ressourcen dafür einzusetzen, um Maßnahmen zu ergreifen für ein Problem, was ja noch gar nicht aufgetreten ist. Das heißt, hier muss man ganz viel Bewusstsein schaffen. Man muss den Nutzen deutlich machen, der mit diesem Supply Chain Risikomanagement einhergeht, und immer wieder darauf aufmerksam machen, was es für einen Vorteil ist. Einer Kontrolle durch eine zentrale Koordination, der stellen sich Beteiligte nur, wenn es auch zum Standard wird. Wie Sie vorhin schon sagten, es muss EIN Standard etabliert sein, im Idealfall für die gesamte Branche. Nur sind wir leider noch weit davon entfernt.

00:29:10
Können uns denn neue Technologien, zum Beispiel Künstliche Intelligenz oder Blockchain, dabei helfen, die Lieferketten widerstandsfähiger zu machen? Gibt es dazu wissenschaftliche Forschung oder vielleicht sogar schon praktische Anwendungen?

00:29:24
Dr. Meike Schröder: Künstliche Intelligenz kann auf jeden Fall helfen, die Lieferketten widerstandsfähiger zu machen. Hier gibt es auch in der Wissenschaft und in der Praxis ganz unterschiedliche Lösungsansätze, häufig in Form von Software, die sich auf das Supply Chain Risikomanagement spezialisiert haben. Man muss sich das vorstellen: Es werden sämtliche verfügbare Daten gesammelt, ausgewertet und nach möglichen Risiken durchforstet, welche einen Einfluss auf die Lieferkette haben können. Wenn wir zum Beispiel eine Gewerkschaft im Hafen haben, die zum Streik aufruft, und ein Beitrag dazu im Internet erscheint, dann werden eben diese Informationen aufgegriffen, ausgewertet und eingeschätzt, ob das zu Verzögerungen beim Ent- und Beladen der Schiffe kommen kann. Der Kunde bekommt dann sogenannte Push-Nachrichten, also eine Information: Achtung, da kann was passieren, vielleicht musst du hier reagieren. Das heißt, durch Einsatz der künstlichen Intelligenz über Ländergrenzen hinweg haben wir eben die Möglichkeit, viel schneller an Daten zu kommen und diese auszuwerten, als es der Mensch in der Lage wäre.

00:30:23
Gerald Hirt: Ich würde das gerne aus der operativen Sicht noch ergänzen. Bei uns in der Kommunikation wird fortlaufend diese Verkehrslage erstellt, drei bis vier Tage im Voraus. Das heißt genau das, was Frau Schröder gerade sagte: Aus einer Vielzahl von Informationen, Schiffs-, Bewegungsdaten, Terminal- und Wetter-Information wird eine Verkehrsablaufsteuerung vorgeplant. Und das ist in der Tat etwas, was wir uns in den letzten Monaten intensiv angeguckt haben. Wäre es möglich, dass dort perspektivisch Künstliche Intelligenz eingesetzt werden kann, die all diese Vor-Aggregierung der Daten unternimmt, sodass sich der Mensch auf die mehrwertstiftenden Prozesse bei der Moderation und Choreografie der Verkehrssteuerung konzentrieren kann.

00:31:00
Wenn man allerdings davon hört, dass künstliche Intelligenz autonome Entscheidungen oder Berechnungen anstellt, aufgrund derer dann reale Dinge beeinflusst werden, dann könnte ja das Beispiel der Kapitalmärkte durchaus eine Warnung sein. Dort haben autonome Entscheidungen von Algorithmen zu erheblichen Turbulenzen und Kursstürzen geführt, weil sich automatisierte Effekte gegenseitig hochgeschaukelt haben. Könnte eine KI möglicherweise auch in der Logistik mehr Schaden anrichten als Nutzen stiften?

00:31:32
Dr. Meike Schröder: Nein, das glaube ich nicht. Es setzt jedoch voraus, dass wir in der Logistik immer noch Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen haben, die die Entscheidung hinterfragen, welche auf Basis der KI getroffen werden. Das heißt, Prozesse müssen übergreifend durch den Menschen überwacht werden. Man darf also nicht blind darauf vertrauen, dass ein Algorithmus selbstständig alle Probleme für uns lösen wird. Denn KI unterstützt bei der Entscheidungsfindung. Aber letzten Endes muss es immer noch jemanden geben, der diese Entscheidung auch tatsächlich trägt.

00:31:59
Im Moment wollen wir ja alle einfach nur, dass die Lieferketten wieder möglichst störungsfrei funktionieren. Aber zu den Zukunftsthemen des Welthandels zählen auch Emissionsminderungen allgemein, die Klimafreundlichkeit der Verkehre. Hat der Hafen da in den letzten Jahren Verbesserungen erzielt?

00:32:16
Gerald Hirt: Also ich kann jetzt auf die letzten 20 Jahre im HHLA Konzern zurückblicken und da würde ich ganz klar sagen: Ja! Fünf Beispiele möchte ich anführen. Das eine ist unser Container Terminal Altenwerder in Hamburg, der als weltweit erster klimaneutral zertifiziert wurde. Wir haben mit der Metrans einen Hinterland-Transporteur, der hocheffiziente Lokomotiven einsetzt. Wir als HHLA haben unterschiedlichste Wasserstoff-Initiativen vorangetrieben. Wir haben als HVCC die Zulaufsteuerung, den Rundlauf der Schiffe im Hafen koordiniert. Und am Ende ist es eben auch der Reeder, der viel investiert, zum Beispiel in neue Antriebstechnologien. Ich glaube in Summe ist unsere Industrie auf einem guten Weg -  aber da gibt es natürlich noch ganz viel Potenzial zu heben.

00:32:57
Ja, Frau Schröder, zu diesen Potenzialen zählt vielleicht auch der Land-Gütertransport. Experten sagen, dass 20 bis 30 Prozent der Kapazitäten auf Lkw und Schiene ungenutzt bleiben. Dadurch werden dann Hunderttausende Tonnen an CO2 unnötig emittiert. Könnte man das vermeiden, indem Frachten besser gebündelt und Laderaum besser genutzt werden?

00:33:23
Dr. Meike Schröder: Das ist auf jeden Fall ein guter Anfang, setzt aber auch voraus, dass hier technologische Möglichkeiten geschaffen werden, nämlich die relevanten Informationen, die dafür benötigt werden, auch flächendeckend ausgetauscht werden können. Denn wenn nur 100 Spediteure ihre Frachten bündeln, hat das zwar einen positiven Effekt, aber das wird immer noch nicht ausreichen. Das heißt, auch hier brauchen wir deutschlandweit, wenn nicht sogar länderübergreifend Lösungen. Aber die Logistik bietet natürlich auch ganz vielseitige Hebel, um diese nachhaltige Entwicklung zu verbessern. Das hängt zusammen mit Antriebstechnologien, das können optimierte Routenplanung sein für eine bessere Auslastung. Das hat aber auch mit Verpackung zu tun. Also den Möglichkeiten, hier Verbesserungen anzustoßen, sind keine Grenzen gesetzt.

00:34:07
Gerald Hirt: Um das vielleicht aus der Praxis auch noch einmal zu unterstreichen: Wir haben zusammen mit einem Maschinenhersteller einmal durchgerechnet, was es denn für ein Spareffekt wäre, wenn so ein 18.000-TEU-Großschiff statt mit 18 Knoten mit 14 Knoten nur von Rotterdam nach Hamburg, das sind 220 Seemeilen, läuft. Dann sind das alleine 22 Tonnen Ersparnis an Bunkertreibstoff, 66 Tonnen Reduzierung an CO2. Und wenn wir uns jetzt einmal vorstellen, wie viele Schiffe von A nach B in diesem Moment fahren, dann zeigt das eben, was dieses Konzept "Just in Time Arrival" für ein enormes Potenzial für die Industrie bietet.

00:34:39
Was wir jetzt noch gar nicht angesprochen haben und auch nur noch am Rande streifen können, das ist ja der Klimawandel. Insofern, als Extremwetter und schwere Stürme auf See und an Land zunehmen. Und auch das schadet natürlich den Lieferketten potenziell gewaltig. Frau Schröder, haben Sie Ideen wie moderne Technologien und Strukturen die Lieferketten unempfindlicher gegen diese Folgen des Klimawandels machen könnten?

00:35:05
Dr. Meike Schröder: Allgemein gilt ja: Je früher wir gewarnt werden, desto besser ist es. Die Unternehmen müssen weg vom reaktiven Risikomanagement, hin zu einem proaktiven Risikomanagement. Wir hatten ja vorhin schon einmal über die künstliche Intelligenz gesprochen. Hier bietet insbesondere das maschinelle Lernen zahlreiche Möglichkeiten, um potenzielle Risiken frühzeitig aufspüren zu können. Denn wir haben eine Vielzahl an Daten aus ganz unterschiedlichen Ursprüngen, wie zum Beispiel Unternehmensdaten, Daten aus dem Internet, von Versicherungen oder Social Media, die ausgewertet werden können. Daraus können Muster erkannt werden und Hinweise gegeben, ob es zu Lieferketten-Unterbrechung kommt oder nicht. Das andere Thema, was auch sehr wichtig ist, ist das Generieren von Daten, was hier eine ganz wichtige Rolle spielt. Stichwort Sensorik. Mithilfe von Sensoren können wir zum Beispiel kleinste Abweichungen wie Temperaturunterschiede oder ein Anstieg von Luftfeuchtigkeit identifizieren und hier auch Rückschlüsse ziehen. Wichtig ist aber immer, daran zu denken, dass alles nicht von einem Unternehmen alleine gestemmt werden kann. Wir werden nur langfristig Erfolg haben, wenn sich ganz viele daran beteiligen.

00:36:09
Ja, das Thema der verletzlichen Lieferketten dürfte uns - das habe ich heute gelernt - trotz aller Bemühungen noch länger begleiten. Was langfristig am meisten hilft, scheint eine verbesserte Kommunikation und Kooperation zwischen möglichst vielen Beteiligten zu sein. Ich danke Ihnen, Frau Schröder und Ihnen, Herr Hirt, ganz herzlich für Ihre Zeit. Hoffnung macht, dass Sie beide mit Ihrer jeweiligen Expertise weiter zur Stärkung des Logistikstandorts Hamburg beitragen werden. Vielen Dank!

00:36:37
Dr. Meike Schröder: Das machen wir sehr gerne!

00:36:39
Gerald Hirt: Genau, vielen Dank!

Das Interview führte Oliver Driesen.

Wenn Sie informiert werden wollen über die nächste Folge, dann melden Sie sich für unseren Newsletter an.

hhla.de/update

Aktualisiert am 12.09.2022

Melden Sie sich für HHLA Update an und erkunden den Wandel in der Logistikwelt! Schließen