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Ein offenes Ohr sei ihr wichtigstes Werkzeug, sagt Tatjana Meichsner. “Und Taschentücher,” fügt sie gleich hinzu, “denn in meinem Büro wird Emotionen häufig freier Lauf gelassen.” Dem begegnet Tatjana mit bewundernswerter Fröhlichkeit und Optimismus. Zwar höre sie als Sozial- und Suchtberaterin der HHLA immer wieder ergreifende, traurige oder komplizierte Geschichten. “Doch meine Aufgabe ist es, einen Ausweg aufzuzeigen. Deshalb gehe ich jeden Fall stark lösungsorientiert an.”
Als allererstes hört sie zu, öffnet nicht nur ihr Ohr. Die Menschen, die zu ihr in die Sprechstunde kommen, erleben eine zugewandte Gesprächspartnerin. Man kann ihre Empathie spüren, ihr Blick vermittelt Anteilnahme. “Manchmal reicht es schon aus, wenn ich meinen Klienten intensiv zuhöre. Sie fühlen sich ernst genommen, ihre Situation wird einmal anders gespiegelt.” In den meisten Fällen steht das Zuhören aber nur am Anfang eines längeren Weges. Und Tatjana ist eine Wegweiserin.
Im Gespräch mit den Klienten wird gemeinsam überlegt, welche nächste Station auf diesem Weg liegen sollte. “Je nach Lage des Falls empfehle ich verschiedene Anlaufstellen,” erklärt sie. “In Zusammenarbeit mit unseren Betriebsärzten kann ich an spezialisierte Ärzte verweisen, meist Psychiater oder professionelle Suchtkliniken. Bei Fällen von Mobbing hilft unsere HHLA Compliance- oder Antidiskriminierungsstelle. Und dann gibt es noch die Schuldnerberatung in der Hamburger Verbraucherzentrale, falls die Probleme wirtschaftliche Ursachen haben.”
Damit es möglichst schnell Termine gibt, kooperiert die HHLA mit verschiedenen Institutionen. In Zusammenarbeit mit der Interventionsagentur “Insite” kann eine psychologische Beratung sehr schnell, innerhalb von 14 Tagen erfolgen - was ansonsten nahezu unmöglich wäre. Bis zu fünf Termine bezahlt sogar der Arbeitgeber. Die Vorschläge der Sozialberaterin sind fast immer Empfehlungen. Klienten kommen freiwillig in ihre Sprechstunden, die sie wechselnd auf den Hafenterminals der HHLA und in der Speicherstadt abhält. Es steht kein Zwang dahinter, und Tatjana unterliegt der gesetzlichen Schweigepflicht.
Ausnahme sind bestimmte Suchtfälle. Wird die Sucht am Arbeitsplatz offen ausgelebt oder beeinträchtigt sie die Arbeit, können Betroffene verpflichtet werden, eine Beratung zu absolvieren. Die Vorgesetzten müssen dann aktiv werden, auch zum Schutz aller Kolleginnen und Kollegen. Für solche Fälle gibt es genau definierte Interventionen, die in Zusammenarbeit mit den Mitbestimmungsgremien erarbeitet wurden. Auch Tatjana hat ihre klare Rolle in diesem Aktionsplan.
Arbeit gibt vielen Menschen in der Krise Stabilität und sorgt für Normalität im Alltag.
Tatsächlich spielen Süchte eine große Rolle in der Beratung. Alkohol ist weiterhin die Droge Nummer 1, der Konsum von Cannabis, Kokain und anderen Rauschgiften nimmt im Verhältnis zu. Das wichtigste Thema der Menschen, denen Tatjana gegenübersitzt, ist jedoch die zunehmende psychische Belastung. Das spiegelt sich auch in aktuellen Zahlen des Krankenkassenverbandes (siehe folgende Grafik) wider. Die Belastungen können sehr unterschiedliche Ursachen haben. Ihre Klienten erzählen Tatjana, dass sie nicht mehr schlafen können oder ihnen jeder Antrieb fehlt. Manchmal haben sie sich übernommen oder werden am Arbeitsplatz nicht fair behandelt. In anderen Fällen führen schreckliche Erlebnisse und raumgreifende Ängste zu den Problemen.
... stehen nur an fünfter Stelle bei der Häufigkeit verschiedener Diagnoseklassen, hinter Atemwegserkrankungen (vor allem durch Coronaviren), Muskel- und Skeletterkrankungen sowie anderen Infekten.
... verursachen jedoch die mit Abstand längsten Fehlzeiten. Zwischen 2002 und 2022 stiegen in deutschen Unternehmen die Fehlzeiten, die von psychischen und Verhaltensstörungen verursacht wurden, um 220 Prozent an – mehr als bei jeder anderen Diagnose!
Es gibt fast nichts, was die 1970 geborene Tatjana Meichsner in ihrer langjährigen Berufszeit nicht schon gehört und gesehen hätte. Sie studierte Sozialpädagogik an der Fachhochschule Kiel und hinterher gleich noch Familientherapie. In ihrem Beruf muss man ständig dazulernen, deshalb folgten Weiterbildungen in Coaching und Mediation. Derzeit finanziert ihr die HHLA gerade den Kurs “Mediative Prozessbegleitung für Organisationen”. Das sei wichtig, erklärt Tatjana, denn zunehmend kämen Teams auf sie zu, die ihre interne Zusammenarbeit und “Chemie” verbessern wollen. Nach ihrem Studium arbeitete sie lange als Psychosoziale Mitarbeiterin in der Beruflichen Rehabilitation für psychisch erkrankte Menschen. Mit diesem Vorwissen wechselte sie in eine Spezialagentur für Sozialberatung. Die Agentur hatte einen Vertrag mit der HHLA. So lernte sie das Logistikunternehmen gut kennen und konnte sich 2020 mit Erfolg für ihre heutige Stelle bewerben.
Nicht viele Unternehmen leisten sich festangestellte Sozial- oder Suchtberater, so wie die HHLA. Ihre Mitarbeitenden sind im Unternehmen das höchste Gut, und deshalb wird für eine bestmögliche gesundheitliche Betreuung gesorgt. Das bringt viele Vorteile für beide Seiten. Schließlich ist das Personal entscheidend dafür, dass alle logistischen Prozesse möglichst reibungslos für die Kunden und effizient im Betrieb ablaufen. Deshalb will man auf ihre Arbeitskraft und ihre wertvollen Erfahrungen nicht lange verzichten. Auch die gesetzlich vorgeschriebenen Angebote zur Wiedereingliederung nach mehr als 6-wöchiger Krankheit sollen möglichst professionell gestaltet werden.
“Arbeit gibt vielen Menschen in der Krise Stabilität und sorgt für Normalität im Alltag”, erklärt Tatjana. “Es ist im Interesse aller, wenn es nicht allzu viele Ausfallzeiten gibt.” Um das zu erreichen, spricht sie bei Bedarf auch die Team- oder Betriebsleitung der Betroffenen an. Können vielleicht Schichten verlagert werden, weil nach einer anstrengenden Scheidung Kinder allein betreut werden müssen? Oder muss sogar ein neuer Arbeitsplatz gesucht und eine Supervision der Umstände vorgenommen werden?
Für die Sozialberaterin stehen immer der Mensch und seine Gesundheit im Vordergrund. Niemand wird gedrängt, fast alle Angebote sind freiwillig. Die Termine in ihren Sprechstunden sind so organisiert, dass die Klienten sich nicht vor ihrer Tür begegnen. Alles bleibt anonym. Für Führungskräfte bietet Tatjana Schulungen an.
Sie lernen zum Beispiel, wie sie mit Suchtfällen umgehen müssen, oder in welchen Fällen sie vorgeschriebene Interventionsketten einleiten müssen. Das ist eine große Menge verantwortungsvoller Aufgaben, die Tatjana zu erfüllen hat. “Manchmal ist es schon sehr viel, aber ich komme auch zum Durchatmen”, sagt sie. “Es ist ein toller, wahnsinnig vielfältiger Job. Ich weiß nie, was als nächstes durch die Tür kommt. Meist gelingt es mir, trotz Empathie, den notwendigen Abstand zu wahren.” Falls sie trotz ihrer Erfahrung mal ratlos ist oder belastende Erlebnisse verarbeiten will, dann kann sie auf ein ausgedehntes berufliches Netzwerk zurückgreifen, um sich auszutauschen.
Es motiviert sie, wenn sie in einer anstrengenden Woche auf ehemalige Klienten trifft, denen es wieder gut geht. “Von den meisten höre ich nichts mehr, was total okay ist”, erzählt sie. “Nicht jedem fällt es leicht, Hilfe anzunehmen oder will an seine schwere Zeit erinnert werden. Aber ich bekomme auch die Hand im Büroflur gedrückt oder ein Lächeln in der Kantine. Das ist eine schöne Belohnung!”
Veröffentlicht am 24.6.2024