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Die autonome Mobilität steht kurz vor dem nächsten Level. Als eine Zwischenlösung gilt „human-assisted“ Autonomie für das Fahren. Die HHLA und das Start-Up FERNRIDE wollen damit gleich mehrere Probleme auf einmal lösen.
Ein Fahrer sitzt vor einem riesigen Bildschirm, der sechsfach unterteilt ist. Vor ihm: ein Sportlenkrad, Aluminium-Pedalerie und verschiedene Bedienelemente mit bunten Knöpfen. Ein halbes Dutzend Screens gewährleisten Rundumsicht. Auf den ersten Blick sieht das Cockpit wie eine überdimensionierte Gaming-Szene aus. Doch der nähere Fokus offenbart: Nein, die Bilder auf den Screens sind keine 3D-Grafiken. Sie kommen aus der echten Wirklichkeit des Hafens von Muuga, nahe der estnischen Hauptstadt Tallinn. Das Gelände liegt hinter den Fenstern, deren Rollos heruntergezogen wurden als Schutz vor Spiegelungen auf dem Monitor. Dort steuert der Mann am Bildschirm den Truck, der gerade mit einem Container beladen wird.
Theoretisch wäre das auch aus einem 2.000 Kilometer entfernten Gebäude in München möglich. Dort entwickelt FERNRIDE sichere Technologien für „human-assisted autonomy“. Das sei eine langfristige Aufgabe, erklärt Maria Tarasova, Head of Marketing and Communications bei FERNRIDE: „Wir müssen verstehen wo es Sinn macht in der Zukunft komplett autonom zu fahren, und wo wir eine menschgestürzte Technologie brauchen.“
Die HHLA ist früh auf das vielversprechende Unternehmen aufmerksam geworden, und ihre Innovationseinheit HHLA Next hat investiert. Julian Stephan von HHLA Next erklärt, im ersten Schritt gebe FERNRIDE eine Antwort auf den seit Jahren andauernden Fahrermangel. Dem soll begegnet werden mit speziellen Zugmaschinen, die auf dem Hafengelände ferngesteuert und teilautonom fahren: „Da steht schon ein Kundenversprechen dahinter, weil das autonome Fahren in der finalen Entwicklungsphase ist.“
Das teleoperierte Fahren könnte daher eine Übergangslösung sein, bis Lkw und Zugmaschinen sich voll-automatisiert oder sogar selbstständig-autonom bewegen werden. Der Weg in die Zukunft ist aber noch lang, und bis dahin bietet der Spezialhersteller Terberg ferngesteuerte Zugmaschinen in der Version mit Elektro-Antrieb. Sie benötigen nur einen kleinen Wendekreis, sind CO2-neutrale im Betrieb und weisen so niedrige Geräusch- und Schadstoffemissionen auf, dass sie sogar in geschlossenen Hallen fahren dürfen.
Weil die vollelektrischen Gefährte sich komplett fernsteuern lassen, lösen sie ein ganzes Paket von Problemen. Das Erste fällt sofort ins Auge. „Der Fahrermangel ist existent, und der Altersschnitt nimmt dementsprechend zu,“ erklärt Stephan. Der Bundesverband Güterkraftverkehr Logistik schätzt, dass branchenweit in Deutschland zwischen 80.000 und 100.000 Fahrer und Fahrerinnen fehlen. 20.000 gehen jedes Jahr in Rente.
Teleoperiertes Fahren kann zum Gamechanger werden, weil ein Fahrer mehrere Fahrzeuge lenken kann. Wie das geht? Die Wagen fahren die einfachen Wege alleine. Wenn es schwierig wird, übernimmt der „Fern-Fahrer“. Es geht vor allem um unübersichtliche oder schwierige Lenksituationen wie das Rangieren an Rampen. Den Rest sollen die Fahrzeuge (teil-)autonom fahren.
Das kann in einem neuen Berufsbild des Bürofahrers münden.
Der zweite Vorteil: Der teleoperierte Ansatz gibt dem Lkw-Lenken ein neues Gesicht. „Das kann in einem neuen Berufsbild münden“, prognostiziert der HHLA Next-Spezialist. In Zukunft könnte der Berufskraftfahrer jeden Abend zu Hause zu sein, müsste nicht mehr in engen Kojen auf Raststätten und Parkplätzen nächtigen. Das vermittelt älteren Fahrern nötigen Komfort, gibt jüngeren eine bessere, modernere Perspektive und würde den Beruf insgesamt attraktiver machen.
„Es gibt weiterhin natürlich überzeugte Lkw-Fahrer die sagen: ‚Ich lebe das, was ich tue‘,“ weiß Julian Stephan. „Aber andere bevorzugen einen „Bürojob“ und wollen abends bei der Familie sein.“ Wer den Traum vom Asphaltcowboy nicht teilt, der kann vielleicht mit Cockpits, Joystick und Displays mehr anfangen.
Es gibt noch andere Vorteile, sagt Stephan: „Die FERNRIDE-Fahrer haben uns bestätigt, dass sie mehr Übersicht haben, als wenn sie im Lkw sitzen würden.“ Fahrten mit dem FERNRIDE-System können also Unfälle reduzieren. Einige Gründe dafür liegen auf der Hand: neben der besseren Übersicht schaffen weniger Übermüdung und Ablenkung ein sichereres Umfeld. Die Herausforderungen beim vollständig autonomen Fahren sind sogenannte „Edge cases“, in denen das Fahrzeug die meisten Hindernisse nicht selbst überwinden kann. Andere Fahrzeuge können die Fahrbahn blockieren, starker Schneefall oder Nebel die Sicht behindern.
Für Maria Tarasova ist „human-assisted autonomy“ eine Lösung: „Dadurch, dass wir einen Menschen haben, der das Ganze beobachtet, kann diese Person diese Edge-Cases immer direkt lösen. So schaffen wir ein sicheres Umfeld für die Mitarbeitenden und können die Produktivität des Betriebs sogar steigern, auch weil ein Operator mehrere Fahrzeug betreut.“
Langfristig könnten die Spezialtrucks und ihre Fahrer dringend benötigte Kapazitäten auf der Straße schaffen. Neben den FERNRIDE-Fahrten auf den Werksgeländen wird es weiter herkömmliche Lkw, in absehbarer Zukunft aber auch vollständig autonome Robotertrucks geben. Das erhöht die Effektivität beim Fahrzeugeinsatz und bringt der gesamten Transportkette zusätzliche Flexibilität. Je nach Effizienzgewinn könnte das außerdem auf ein weiteres Konto einzahlen: das der Nachhaltigkeit. Fahren zum Beispiel mehrere autonome Lkw organisiert im Konvoi, kann damit bis zu zehn Prozent der Antriebsenergie eingespart werden.
Aus der Blickrichtung von Julian Stephan geht es nur in eine Richtung weiter: „Langfristig steuern wir in Richtung Autonomes Fahren.“ Auch Maria Tarasova von FERNRIDE ist sich sicher, dass in der Zukunft autonomes Fahren die Antwort auf viele Herausforderungen der Branche ist. Doch sie ergänzt: „Um jedoch die erforderliche Zuverlässigkeit schon heute zu gewährleisten, nutzt FERNRIDE den „human-assisted autonomy“ Ansatz und ermöglicht die Vorteile und den zuverlässigen Betrieb mit dem ersten Tag der Integration. Gleichzeitig arbeiten wir daran, die Technologie weiterzuentwickeln, um in Zukunft zuverlässiges, sicheres und vollständig autonomes Fahren zu ermöglichen.”
Die HHLA hat gemeinsam mit MAN bereits die Voraussetzung für diese Zukunft geschaffen. Das Projekt Truckpilot zeigte im konkreten Test auf dem Hamburger Hafenterminal CTA, dass autonomer Containertransport ein Plus an Sicherheit und Effizienz bei weniger Emissionen bringt. Doch eine Markteinführung wird erst in den kommenden Jahren erwartet. Diese Lücke soll das teleoperierte Fahren füllen.
Im Gespräch mit Till Schlumberger und Sebastian Völl, den Projektleitern von Hamburg TruckPilot bei der Hamburger Hafen und Logistik AG (HHLA) und MAN Truck & Bus.
Es gibt auch noch einen technischen Faktor, der das teleoperierte Fahren mit dem autonomen verknüpft: die Daten. Bestimmte Trucks besitzen bereits alle Sensoren, um sämtliche Fahrmanöver und -situationen vollumfänglich zu dokumentieren. Mit diesen Informationen lässt sich dann wieder ein maschinelles Lernsystem trainieren, das am Ende das autonome Fahren ermöglicht.
Um hoch komplexe Verkehrssituationen mit freien Verkehrsteilnehmern zu erlernen, bedarf es vieler Gigabyte Daten. Mit denen kann eine künstliche Intelligenz gefüttert werden und lernt daraus situatives Reagieren. So liefert auch das FERNRIDE-Projekt in Estland nötige Grundlagen für das autonome Fahren – nicht nur im Bereich Organisation und Personal, sondern auch bei Technik, Datengrundlage und Koordination.
Veröffentlicht am 5.7.2023