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Die Hamburger Speicherstadt, heute UNESCO-Weltkulturerbe, war einst der modernste Logistikstandort der Welt. Immer noch zieht sie innovative Geister an, zum Beispiel in den Speicherblock E5. Dort, in der „Boden“ genannten vierten Etage, ist es winterlich frisch. Aus der offenen Ladeluke sieht man über den Zollkanal hinweg auf die eingeschneite Hamburger City.
„Wir heizen nur drüben im Büro“, entschuldigt sich Tim Lampe, „wir nutzen die Flächen überwiegend als Lager, da braucht es keine kuschelige Wärme.“ Der 29-jährige Lampe ist Chief Operating Officer (COO) des 2019 gegründeten Start-ups Wildplastic.
Bewusster Umgang mit Ressourcen steht im Zentrum der Unternehmensphilosophie. Wildplastic bezahlt Lieferanten auf der südlichen Hemisphäre des Planeten dafür, in Ländern ohne entwickeltes Entsorgungssystem Plastikmüll zu sammeln und vorsortiert nach Hamburg zu schicken.
Was die Lieferanten aus Afrika und Asien per Schiffscontainer liefern, wird in der Hansestadt zu körnigem Granulat aufbereitet und dann zu neuen Kunststoffprodukten recycelt – vom klassischen Müllbeutel bis hin zu Kanistern aus Hartplastik. Je mehr Verkaufserlös, desto mehr verdienen auch die Sammler des Plastikmülls. Der kommerzielle Erfolg beginnt sich bei Wildplastic nach corona-bedingten Startverzögerungen gerade einzustellen. Hinter den schwarzen Zahlen stecken unternehmerische Pionierarbeit und ein perfekter Standort für gute Ideen: die traditionsreiche Hamburger Speicherstadt.
Schon als das heutige UNESCO-Weltkulturerbe 1888 eröffnet wurde, war der Lagerhauskomplex extrem innovativ. Das damals modernste Logistikzentrum der Welt war intermodal an den internationalen Güterverkehr angebunden, mit Eisenbahn- und Straßenanbindung auf der einen sowie Anlegern für Binnenschiffe auf der anderen Seite der Lagerblöcke. Hydraulische Kräne standen an der Wasserseite, Seilwinden hievten Waren durch die Luken und ein eigenes Kraftwerk sorgte überall für elektrische Beleuchtung.
Fast 140 Jahre später geht es beim Nachwuchs-Unternehmen Wildplastic intermodal weiter. Über die Elbe kommt der Rohstoff Plastikmüll per Schiffscontainer in den Hafen, im Speicher lagern Muster und Prototypen, auf der Landseite werden versandfertige Recyclingprodukte abgeholt.
Gerade mal zwei Straßenecken weiter packt Simon Radtke appetitlich aussehende Birnen, Cherrytomaten und Kohlrabis in eine Holzkiste. Als Geschäftsführer hat er das junge Unternehmen „Stadt Land Frucht“ aufgebaut. Es beliefert Büros und Privathaushalte bis über die Stadtgrenzen Hamburgs hinaus mit frischen, gesunden Snacks, möglichst „bio“ und gern aus regionaler Produktion.
Über die Rampe im Erdgeschoss wird bis zu viermal täglich Frischware angeliefert und in der Halle kommissioniert. „Der Standort Speicherstadt ist für uns optimal“, sagt Radke, „von hier sind es nur wenige Minuten bis zum Großmarkt, und die meisten unserer Bürokunden sitzen in der Innenstadt und der HafenCity.“
Wildplastic und Stadt Land Frucht sind nur zwei Beispiele aus der bunten Gründerszene, die sich in diesem Backstein-Biotop angesiedelt hat. Die Vielfalt von Start-ups verdankt sich auch der jahrelangen Arbeit von HHLA Immobilien. Deren Team bewirtschaftet den größten historischen Lagerhauskomplex der Welt und entwickelt ihn seit langem in Richtung Zukunft.
„Die Speicherblöcke haben den Vorteil, dass sie sich multifunktional nutzen lassen“, erklärt Mirko Schröder, Architekt bei HHLA Immobilien. „Ihre historische und massive Gebäudehülle gibt uns ein solides Fundament. Im Inneren verfügen wir dank der rasterförmigen Stützenanordnung über die Freiheit, die Flächen für spannende neue Nutzungen umzurüsten. Das ist nicht nur wahnsinnig attraktiv, sondern auch die nachhaltigste Gebäudenutzung, die möglich ist.“
„Die Speicherblöcke haben den Vorteil, dass sie sich multifunktional nutzen lassen“
Hamburgs Gründerszene findet passgenaue Raumlösungen und macht die Speicherstadt zum Magneten innerhalb einer Stadt, die eine unüberschaubare Vielfalt frisch gestarteter Unternehmen anzieht. „Mit rund 1.400 Start-ups zählt Hamburg in Deutschland zu den wichtigsten Metropolen für Unternehmensgründungen“, sagt Veronika Reichboth, Leiterin der Start-up Unit Hamburg bei Hamburg Invest.
Ihr Team kümmert sich an der Schnittstelle von Stadtmarketing und Wirtschaftsförderung darum, die Jungunternehmen und ihre innovativen Geschäftsmodelle in der Stadt zu positionieren und ein belastbares Netzwerk aufzubauen. Reichboth überrascht es nicht, dass viele in die Speicherstadt ziehen: „Als Weltkulturerbe hat sich dieser besondere Ort im Umfeld von Tradition und Moderne zunehmend als Zentrum für zukünftige Geschäftsmodelle etabliert.“
Hamburg Invest zählt zu einem ganzen Cluster von Förder-Institutionen für die Gründerszene der Hansestadt. Sogenannte Inkubatoren und Akzeleratoren versorgen die Newcomer mit finanzieller Starthilfe – durch Zugang entweder zu Investoren oder zu Fördermitteln.
Zu den Förderern der Szene zählt auch die HHLA selbst, mit ihrer Innovations- und Venture Building-Einheit HHLA Next. Sie scannt weltweit die maritime Logistikbranche nach digitalen und nachhaltigen Lösungen für den Transport von Waren. Identifiziert sie innovative Geschäftsmodelle mit Potenzial, dann investiert sie auch. Bei Ausgründungen hilft sie mit ihren Strukturen oder übernimmt die Rolle eines Brückenbauers zwischen Start-ups und Corporates. (Zur Webseite von hhla-next.de)
Ein anderer Aufbauhelfer für frisch gegründete Firmen, die NMA Venture Capital, findet sich nur eine Straße weiter. Aus einer früheren Initiative namens Next Media Accelerator habe man sich zum internationalen Beratungsunternehmen im Bereich digitaler Innovation weiterentwickelt, so Managing Partner Christoph Hüning. Er bringt Start-ups und passende etablierte Medien- wie auch andere Unternehmen zusammen. Um internationalen Partner zu Events nach Hamburg zu locken, nutzt Hüning gerne das weltbekannte maritime Flair der Speicherstadt: „Das macht was her, und hier ist alles in Laufweite. Man kann mittags schnell was essen gehen und hat dabei noch den Blick auf die Elbphilharmonie.“
Geht man den Sandtorkai in Richtung der berühmten Elbphilharmonie, sind an vielen weiteren Haustüren Verweise auf innovative Technologien und Entrepreneure zu finden. Gleich neben dem NMA findet sich das Virtual Reality Headquarters (VRHQ), ein Showroom und Begegnungsort für junge Hamburger VR-Unternehmen und -Projekte.
Dann kündigen große goldene Buchstaben auf dem Backstein den Digital Hub Logistics an. Als einer von zwölf thematisch unterschiedlich aufgestellten Hubs, also Knotenpunkten, gehört der Digital Hub zur de:hub-Initiative unter der Koordination des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Natürlich konzentriert sich der Hamburger Hub mit seinem Standort in der Speicherstadt auf moderne Logistik-Lösungen.
Hier finden entsprechende Start-ups auf der Suche nach Vernetzung mit Partnern aus der Wirtschaft nicht nur Beratung und Kontakte. Auf allen fünf Böden eines ganzen Speicherblocks bieten sich ihnen auch flexible und entspannt eingerichtete Arbeitsflächen, Tischtennisplatte und Event-Etage inklusive.
„Der Digital Hub Logistics verbindet unsere aktuell mehr als 100 registrierten Start-ups und derzeit 25 etablierten Partnerunternehmen durch verschiedenste attraktive Event- und Veranstaltungsformate“, erklärt Managing Director Erik Petruschke. Eines dieser Formate ist das dreieinhalbtägige Boost Camp. Dort kam es im vergangenen Jahr zu einer anspruchsvollen, aber durchaus typischen Herausforderung.
Die Hamburger Hochbahn bat den Hub um Ideen, wie ein digitales Wegweiser-System für Fahrgäste im unübersichtlichen U- und S-Bahnhof Jungfernstieg aussehen könnte. Im Camp wurde gemeinsam mit den Start-ups Zaubar, Lemberg Solutions sowie dem Anwendungs-Designer Wehyve ein Konzept entwickelt. Beim Nahverkehrsunternehmen stieß es auf positive Resonanz. „Das wird jetzt in einem agilen Verfahren weiterentwickelt“, freut sich Petruschke.
Wieder einmal entstand im Weltkulturerbe eine zukunftweisende Lösung. Man kann der alten Dame Speicherstadt ihren über mehr als ein Jahrhundert entstandenen Charakter eben nicht austreiben. Sie war, ist und bleibt ein inspirierender Logistik-Standort.
Autor: Oliver Driesen
Veröffentlicht am 7.2.2024